Ina Shi. Maatsumotooh schallt es in C-Dur aus schwarzen Lautsprechern, wenn man aus dem Zug steigt und aus dem weißen Bahnhof strömt.
Aber ich steige nicht aus dem Zug, komme auch nicht am Bahnhof an. Von Takayama aus habe ich einen Bus über die japanischen Alpen genommen. Gerade heute wird das Wetter launisch, hat mir noch drei blaue Tage im nostalgischen Gassho-Land genehmigt und haut jetzt richtig auf die Kacke. Regen bis die Strassen fließen, Schnee folgt. Wolken kippen Schneeberge auf Strassen, meterhoch. Die Dächer sind mit hoher Schneedecke bedeckt, es brechen kleine Schneelawinen herunter, fallen auf durchsichtige Plastikregenschirme. Überall kratzt und knarzt es, Schneeschaufeln um die Wette die Strassen entlang. Es schneit weiter und bald ist die mühselige Schaufelarbeit nicht mehr sichtbar.
So wie auch die Berge nicht mehr sichtbar sind. Takayama sieht aus als hätte jemand ein Glas Milch darüber verschüttet und hinter der Stadt beginnt ein großer weißer Fleck auf der Landkarte.
Ich sitze im Bus, fahre mitten hinein. Beschlagene Fensterscheiben, doch auch wenn die Hand sie trocken wischt, sieht es dahinter nicht viel anders aus- Schnee beschlagene Berge, selten ein dunkles Dach im Weiß, eine schwarz-weiß Fotografie mit mehr weiß als schwarz. das sind also die japanischen Alpen. Auch unsere Alpen sehen so aus im Schneechaos. Bäume neigen sich schwer unter Schneemassen. Die Strasse ist kurvig, das spürt der Magen, auch wenn die Augen es nicht sehen. Der Bus schlittert die Serpentinen entlang. In schwarzen Tunneln gibt es Lichter zum Zählen. Mehr gibt es nicht zu sehen. Das Leben für drei Stunden im Schneckentempo schwarz-weiß gesehen-
Afrikaner sind schwarz, Deutsche sind weiß, Franzosen auch, Schweden haben sogar weiße Haare, auch auf Flores gibt es schwarze Menschen. Die Nacht ist schwarz bei Stromausfall, der Mond ist weiß. Vor Jahren war ich mal im NanuNana, da kam ein Stromausfall, da war der ganze Laden schwarz. Schokolade ist schwarz, es gibt auch weiße. Klos sind meistens weiss, in Japan aber cremefarben. Schwarze Möbel sind hässlich. Schwarz ist böse, weiß ist gut…
Gott sei Dank sind auch drei Stunden Schwarz-Weiß-Denken irgendwann vorbei. Wo kommen wir denn dahin, wenn alles nur schwarz oder weiß sein soll? Schokolade ist doch eher braun. Es gibt auch schwarz und weiß zusammen, das nennen wir dann grau und überhaupt was machen wir mit grün und rot? Was mit lila Plastikkojen und gelben Chinesen und blauen Japanern nach Feierabend?
Also öffnen sich die roten Bustüren, die bunten Japaner und die weiße Deutsche steigen aus- Matsumoto. Schnee fällt vom Himmel, bedeckt Straßenschilder, macht es schwer den Weg zu finden. Also bummele ich erst mal ziellos die Strassen entlang, verwerfe die Idee mein Hotel zu finden. Ich bewege mich wohl zirkulär um das Hotel herum, finde es aber nicht.
Kratz, Schab, Knarz… Auch hier wird überall Schnee geschaufelt. Ich muss an das Buch denken, das ich gerade fertig gelesen habe- Haruki Murakami „Tanz mit dem Schafmann“. Er schreibt von kulturellem Schneeschaufeln, meint journalistische Restaurantbeschreibungen. Ich schmunzele. So viele Schneeschaufler.
ich stapfe dennoch durch hohen Schnee, mag das Knarzen unter den Sohlen, Hose und Schuhe bald ganz nass. C-Dur-Matsumoto gefällt mir. Es ist klein und gemütlich, nicht so anstrengend schick wie Nagoya und nicht so überlaufen nostalgisch wie Takayama. Die Menschen haben etwas Eigenes, freundliches, provinzielles und dennoch lässig urbanes, weltoffenes. Vielleicht ist die Stadt auch ganz normal.
Natürlich gibt es auch hier die Mickeys Mäuse auf hohen Stiefeln und in Miniröcken steckend. Sie sind sogar sehr hartgesotten, tapsen mit überwiegend nackten Beinen auf Pfennigabsätzen durch Schneeberge. Ob sie wenigstens Thermounterwäsche tragen oder den Winter lang Blasenentzündung haben?
Es gibt in Matsumoto auch viele Menschen mit eigenem Style, viele Second-Hand-Läden, kleine Gassen mit winzigen japanischen Werkzeugläden, seltsame architektonische Neuschöpfungen neben alt-getrimmten Golduhren, viele Brücken über einem kleinen Fluss und viel Schnee. Wenn die Ampel grün zeigt, ist Musik zu hören, die so ähnlich ist wie Beethovens „Für Elise“.
Diese Stadt schafft es, das Gefühl zu geben, mitten drin zu sein und nicht nur beobachtend vorbeizugehen. Gratulation. Selbst dann, wenn man eigentlich doch nur schwarz-weiß sehend vorbeigeht, wie Touristen es meistens tun. Man fühlt sich wenigstens bunt dabei.
Ich sitze in einem Wiener Café, esse chinesische Donuts mit Sesam und süßen Bohnen gefüllt, trinke italienischen Cappuccino. Das Fenster geht zur schwarz-weißen Gasse, es schneit immer noch dicke weiße Flocken. Die Bedienung trägt weiß, passend zum Winter. Eine alte Dame mit Buckel in lila geht draußen im Schnee. Zwei Frauen unter Schirmen bleiben zwei Meter voneinander entfernt stehen, halb abgewandt zum Weitergehen. Nach zehn Verbeugungen, die Schirme wackeln lustig hin und her, gehen sie weiter. Sumimasen, Arigato, Sumimasenarigatosumimasen könnte ihr Gespräch sein. Ein Schirm schwarz, der andere rot, wackel, wackel und weg sind sie. Es bleibt der weiße Schnee, der weiße Schaum auf meinem italienischen Cappuccino, die weiße Bäckerkluft der Verkäuferin, die C-Dur-Musik im Hintergrund, eine Messing-Uralt-Kasse aus Wien und nasse Hosenbeine bis zu den Knien. Die Musik wechselt zu brasilianischem Samba. Welch bunte Mischung.
Die Attraktion der kleinen Stadt: eine Burg aus dem 16. Jh., sechsstöckig mit quadratisch sichtbaren Stockwerkunterteilungen, die abstehen wie viereckige Strumpfbänder.
Hinter dicken Schneeflocken-Vorhängen wird es dann sichtbar- die Burg ist tatsächlich schwarz-weiß.
Was hat die Fahrt durch den weißen Fleck auf der Landkarte nur angerichtet? Werde ich jetzt alles nur noch schwarz-weiß sehen? Hoffentlich hört es bald auf zu schneien, dann gibt es endlich wieder Farbe…