Es ist ein hübsches, kleines Cafe, in dem ich sitze, wissen Sie. Ich komme oft hier her. Die Eingangstür ist aus rötlichem Holz mit milchiger Glasscheibe in der Mitte. Durch filigranes Blumenmuster kann man von draußen das Interieur betrachten. Man kann vor der Tür stehen, einen Blick auf die Insassen werfen, vor Eintritt. So weiß man im Voraus, was einen erwartet. Das schätze ich.
Drinnen stehen runde Holztische mit jeweils genau drei Stühlen. Die Stuhllehnen sind rund, einige große Spiegel hängen an den Wänden. In ihnen spiegelt sich das sonntägige Geschehen, auch wenn man ihm den Rücken zudreht. Ich komme jeden Sonntag hier her. Man kennt mich. Die Bedienung wechselt im zwei Wochen Takt, doch immer trägt sie eine ordentlich gebügelte Schürze, weiße Bluse mit der Aufschrift „Macy’s“ und einen grauen, knielangen Rock. Unter dem Rock dann die wechselnden Beine. Jede erste Woche: schlank, jede zweite gut gepolstert. Margot und Britta. Aber ich möchte Sie wirklich nicht mit Beschreibungen der Bedienung meines Stammcafes langweilen. Eigentlich möchte ich ganz etwas anderes erzählen:
Es ist jetzt zehn Jahre her. Halten sie mich nicht für einen nostalgischen Greis, der seinen Erinnerungen mehr Bedeutung zugesteht als der Gegenwart. Es ist eine besondere Erinnerung. Eigentlich gewann sie erst im Nachhinein Bedeutung. Warum ich dann mein kleines Café beschreibe, uns aufhalte? – Nun, es begann alles hier. Es ist ein trostloser Ort.
Klare Winternacht – nein, kein Sonntag. Damals kam ich öfter und unregelmäßiger. Ich war bei meiner Familie zum Essen gewesen, hatte Vorwürfe meiner Mutter, lächerliche Sprüche meines Vaters und präpubertäre Probleme meiner neunundzwanzigjährigen Schwester ertragen. Irgendwann hatte ich mich losgerissen – zugegeben mit viel Überwindung, von Gewohnheiten fortzukommen, dauert immer seine Zeit – war zu wach, um ins Bett zu gehen, zu müde, um meiner Frau länger als fünf Minuten zu begegnen. So kam ich in dieses hübsche Café. Vielleicht war es damals das erste Mal, dass ich hier war. Vielleicht.
Ich stand vor der Tür, warf einen prüfenden Blick durch das Blumenmuster der milchigen Scheibe – trat ein. Noch bevor ich mich setzte, bestellte ich ein extra großes Glas schwarzen Kaffee. Dafür bin ich, glaube ich, in der ganzen Stadt bekannt. Noch bevor ich mich jemals in einem Café an einen Tisch setze, frage ich, ob ich schwarzen Kaffee im extra großen Glas bekommen kann. Ist mir das Glas nicht extra groß genug, gehe ich, ohne zu bezahlen. Damit habe ich gar kein Problem. Manche Bedienungen allerdings haben das. Aber habe ich sie etwa nicht durch meine Frage nach einem extra großen Glas Kaffee gewarnt? Ich bekomme eben gerne, wonach ich verlange. Meistens bekomme ich es.
In diesem Café jedenfalls gibt es den besten Kaffee im Glas der ganzen Stadt. Also blieb ich in jener klaren Winternacht bei „Macy’s“, setzte mich an einen der runden Tische, las Zeitung und trank zuweilen einen Schluck. Ich bevorzuge Kaffee im Glas, weil ich ihn schwarz mag und auch sehen möchte, dass er schwarz ist. Sie könnten anregen: ‚Nun trinken sie doch schwarzen Kaffee aus einer schwarzen Tasse’, doch das wäre irgendwie verfälscht. Und gehen sie mal in ein Café und bestellen schwarzen Kaffee in einer schwarzen Tasse. Nein, dann doch lieber im Glas, glauben Sie mir.
Also saß ich da, blätterte in Themen, die mich noch weniger bewegten als die Welt und trank schwarzen Kaffee aus einem extra großen Glas: „Frau setzt dreimonatiges Kind aus“, „Aliens. Jetzt wissenschaftlich bewiesen“, „Britta (29) glücklich nach Brust-OP“… Ich legte die Zeitung beiseite.
Etwas hatte sich in dem kleinen Raum verändert. Zunächst vermochte ich nicht zu sagen, was es war und als ich es doch tat, war es zu spät. Da stand plötzlich eine Frau vor mir und nahm mein gesamtes Sichtfeld ein. Ich hatte sie nicht darum gebeten. Sie war blond, rote Lippen, breite Hüften, kariertes Kostüm – nicht hässlich.
„Darf ich mich einen Moment setzen?“ „Warum nicht“, brummte ich, war schon versucht die Nase erneut in die Zeitung zu stecken – aus Verzweiflung, nicht Interesse. Doch sie gab mir keine Chance: „Lesen Sie gerne?“ „Ja.“ „Lesen Sie viel?“ „Nein.“ „Also wissen Sie, ich habe da dieses unglaublich gute Buch von Paulo Coelho gelesen…“ Oje. „… und diese Frau, wissen sie, ist plötzlich gar nicht mehr zu Tode betrübt, denn sie weiß ja, dass sie nur noch eine Woche zu leben hat…“ Sie hatte weiter geredet, ohne dass ich es bemerkt hatte. Sie sehen, ich war nicht wirklich interessiert. Sie erzählte also von diesem Buch, schaffte irgendwie die Überleitung zu ihrem eigenen Leben und als ich auf die Uhr sah, waren drei Stunden vergangen. „Also, ich bin müde. Ich geh’ nach Hause“, unterbrach ich sie. Sie schaute mich mit ihren großen Augen an, die mittlerweile so traurig aussahen, dass ich mich fragte, ob ich etwas Interessantes verpasst hatte. Tragödien sind ein Genuss. Aus Mitleid fragte ich: „Soll ich Sie nach Hause fahren?“
Etwas verlegen nickte sie mit dem Kopf. Das fand ich sympathisch. Wir zahlten, gingen zu meinem alten Opel, ich schämte mich, wir stiegen ein, ich vermisste etwas. Ach ja richtig, sie hatte für fünf Minuten aufgehört zu reden. Nun war sie mir noch sympathischer. Ich zündete den Wagen, löste die Handbremse und fuhr los. Sie sagte immer noch nichts. Zwangsläufig musste ich fragen, wo ich hinfahren sollte, also brachte ich es hinter mich. Ich bekam keine Antwort.
Lichter rasten in Linien an uns vorbei, ein Mann mit Hut und Hund schlich über eine rote Ampel, die Reifen quietschten, der Wagen schlitterte, kam gerade rechtzeitig zum Stehen. Der Mann und der Hund guckten einen Moment lang schockiert, schlichen dann vorüber. Vom Beifahrersitz keine Reaktion. Und genau aus diesem Grund unterließ ich es auch, mich über Mann und Hund lautstark aufzuregen. Irgendwann öffnete sie den Mund: „Links.“ Ich fuhr links. „Rechts.“ Ich fuhr rechts. „Danke, und jetzt anhalten.“ Ich hielt an, machte den Motor aus und zog die Handbremse an. Stille. Beinah wurde es unerträglich. Ich schaute sie an, sie blickte auf ihre Knie. Was mochte nur in ihrem Kopf vorgehen? Dann sagte sie: „Und Sie? Wie geht es Ihnen?“ Das hatte mich lange niemand mehr gefragt. „Gut“, sagte ich. „Kommen Sie noch mit hoch?“ fragte sie. Ich zögerte: „Aber nur kurz. Haben Sie schwarzen Kaffee im Glas?“ Sie hatte schwarzen Kaffee im Glas. Den besten.
Wir saßen lange in ihrer kleinen Küche, schwiegen, ich trank meinen Kaffee, sie tat nichts. Die Küche war nicht der schönste Ort, um nichts zu tun. Weiß, steril, eng und sehr zweckgebunden. Doch das imponierte mir. Sie war nicht eine jener Frauen, die ihre Wohnung mit allerhand Zierrat – Gummibäumen, Potpourri, Fensterbildern und Muscheln – schmücken. Sie war schlicht.
Dann stand sie wortlos auf. Ich hatte mein Kaffeeglas noch nicht leer getrunken, folgte ihr dennoch ins Wohnzimmer. Vor dem Sofa machte sie halt und zog sich aus. Ich schaute zu. Als sie fertig war, näherte ich mich ihr und ließ mich von ihr ausziehen. Doch genauso gut hätte es auch nicht passieren müssen. Ich meine, ich hätte sie nicht nach Hause fahren müssen, hätte nicht auf ein Glas Kaffee mit nach oben kommen müssen, hätte ihr nicht ins Wohnzimmer folgen müssen. Nein, das wäre alles nicht nötig gewesen.
Es ist eine seltsame Erfahrung einen Körper, den man gar nicht recht will, dargeboten zu bekommen. Schließlich fuhr ich nach Hause, legte mich leise neben meine Frau ins Bett, spürte wie sie im Schlaf zu mir kroch, meine Nähe suchte. Ich bereute es nie. Ich habe noch nicht einmal einen Gedanken an diesen Abend verschwendet.
Was denken Sie nun? – Ein Schulternzucken.
Ich werde Ihnen erzählen, wie es weiter ging: Ich sah die Frau nie wieder, dachte nicht an sie, für mich existierte sie gar nicht. Bis plötzlich nach einem Jahr ein Brief in unserem Briefkasten landete. Ich fand ihn und öffnete diesen Brief, war über die dürftig beschriebene Seite verwundert. „Eines geht mir gegen den Strich; dass wir uns nicht wiedersehen sollten“ stand in Schreibmaschinenschrift auf einer weißen DIN A4-Seite. Schlicht und aussagekräftig. Sofort war mir klar, das Schreiben konnte nur von der schlichten Unbekannten mit dem guten Kaffee im Glas sein. Ich weiß es nicht, vielleicht stimmt es nicht, vielleicht. Mein Leben hat sich seither geändert.
Ach, warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? „Erzählen sie weiter“
Also gut. Seit dem Erhalt des Schreibens, auf dessen Umschlag nicht mein Vorname in der Adresse stand, sondern lediglich unser Familienname, hat sich alles geändert. Natürlich weiß meine Frau nichts von der Existenz dieses Briefes. Ich habe es ihr nie gesagt. Jetzt ist es zu spät.
In den ersten Tagen zweifelte ich noch daran, dass der Brief von der schlichten Unbekannten war. Sie kannte meinen Namen nicht, wusste nicht, wo ich wohnte. Ich rechtfertigte: Vielleicht ist sie mir in jener Nacht gefolgt. In den darauffolgenden Tagen zweifelte ich an der Existenz des Briefes. Doch diese Phase war schnell vorbei. Ein Blick auf meine Hand, die verkrampft ein weißes Stück Papier hielt, überzeugte mich vom Gegenteil. Der Brief existierte. Von wem mochte er sein? So fing ich an, an mir selbst zu zweifeln: War der Familienname auf dem Briefumschlag wirklich meiner? War es eine Verwechslung? Wie war mein Name? Und wer wollte ich sein? War ich, was ich sein wollte? Hätte alles ganz anders kommen sollen?… Mein Kopf drehte sich. Ich stellte mein Leben auf den Kopf. Eine DIN A4-Seite mit einer Schreibmaschinenzeile darauf in den Händen genügte.
Ich nahm die Seite regelmäßig in die Hände. Anfangs jeden Abend, heute nur noch jeden Sonntag. Damals schloss ich mich, wenn ich von der Arbeit kam, in mein Computerzimmer ein, und wollte mit der simplen Zeile 20 Minuten, manchmal auch eine Stunde, alleine sein. Während dieser Zeit durfte mich niemand stören. Einmal klopfte meine Frau an die Tür. Das hätte sie besser nicht gemacht. Ich sagte ihr, sie solle verschwinden. Doch sie verschwand nicht. Sie redete auf mich ein, wir könnten doch über alles reden. Sie irrte sich.
Wir entfernten uns voneinander. Sie verstand nicht, was ich durchmachte. Und bald war sie, unser gemeinsames Leben so abstrakt geworden, dass ich sie auch nicht mehr verstand. Nach zwei Jahren verließ mich meine Frau. Sie nahm die Kinder mit. Ich habe sie bis heute nicht wiedergesehen. Doch all das geschah, ohne dass es mich kümmerte. Ich bemerkte es nicht. Mein Leben hörte mit der Existenz des Briefes auf zu existieren. Ich fing an Paulo Coelho zu lesen: „Veronika beschließt zu sterben“, „Der Alchimist“, „Elf Minuten“- Die ganze Palette. Ich kann nicht sagen, dass mich die Bücher bewegt haben. Sie waren genauso abstrakt wie mein eigenes Leben. Ich las sie nur aus dem verzweifelten Versuch, die schlichte Unbekannte kennen zu lernen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich fand es nicht heraus. Sie war zu unbekannt, zu abstrakt, zu schlicht, nur eine Vorstellung, nicht mal das. Und bald existierte nichts mehr in meinem Leben. Es war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ich hätte es mit Entschuldigungen, mit Erklärungen kitten können. Vielleicht.
Doch die Erinnerung an die schlichte Unbekannte und den Brief hatte ich nach einiger Zeit so oft in meinem Kopf wiederholt, erneut durchgespielt, ergänzt, verändert, erweitert, dass ich nicht mehr sicher sein konnte, was geschehen war. Ein gigantisches Nichts umgab mich, abstraktes, schlichtes Nichts. Und mittendrin stand ich, irrte umher, rannte gegen Wände, brach mir sämtliche Knochen und hörte dennoch nicht damit auf. Mir war durchaus bewusst, wie dumm ich war. Doch ich fand es sei mein gutes Recht. Tag täglich bin ich in meinem Leben Menschen begegnet, über deren Dummheit ich mich empörte, immer in dem Bewusstsein, der Verpflichtung, mich besser verhalten zu müssen. Ich habe mich selber immer zu wichtig genommen, und jetzt nahm ich mich gar nicht mehr.
Ich saß oft in „Macy’s Café“, saß einfach nur da, tot und lebendig zugleich, existierend. Es gibt nichts Schlimmeres als existierend in einem Café zu sitzen. Ich sah Menschen zanken, Blätter von den Bäumen fallen, Männer in Anzügen, Jogger in Shorts, baldige Winterurlauber Skier kaufen und baldige Sommerurlauber Schlauchboote. Der Anblick gefiel. Vielleicht, nicht sonderlich. Ich kam mir vor wie eine Bühne, auf der eine Stepptruppe tanzte. Die Menschen lebten, und ich war ihr Parkett. Die Zeit verging. Fragen Sie mich nicht wie. Zeit vergeht immer.
Und dann gehe ich heute morgen aus dem Haus, um mich hinter die Glasscheiben von „Macy’s“ zu setzen, einen Kaffee im Glas zu trinken und Zeitung zu lesen. Ich komme jedoch von meinem Weg ab. Seltsamerweise bleibe ich an einem Kiosk stehen, betrachte die Zeitungen und kaufe eine. Normalerweise hätte ich bei „Macy’s“ jede Zeitung lesen können, die ich wollte. Doch ich tat es nicht. Mich überkam das Bedürfnis mir selber eine Zeitung zu kaufen. Meine eigene. Die mit dem Lokalteil. Und mich in den Park zu setzen.
Hier sitze ich nun, blätter’ in der Zeitung und sehe dieses Gesicht. Erst bin ich mir nicht ganz sicher, doch umso länger ich darauf starre, desto deutlicher wird das Bild. Das Bild ist sie, die schlichte Unbekannte. Sicher. Sie ist älter geworden, der Mund runzlig, Lachfalten um die Augen, Denkfalten auf der Stirn – aber sie ist es. Sicher. Es ist eine Todesanzeige, schauen Sie. Sie ist vergangenen Mittwoch gestorben. Krebs. Die Lunge. Sie hatte einen Mann und zwei Töchter, die haben die Anzeige aufgegeben, sehen Sie hier. Die Adresse ist noch dieselbe.
Wissen Sie, was merkwürdig ist? In all den Jahren, in denen ich sie auf die eine oder andere Weise gesucht habe, ist mir nie in den Sinn gekommen, ihre Wohnung aufzusuchen. Und heute – da kaufe ich diese Zeitung, lese sie im Park, sehe die Todesanzeige, treffe Sie auf dieser Bank, erzähle Ihnen die ganze Geschichte, und mir wird klar… Ja was denn? Was halten Sie von der Geschichte?
„Vielleicht war der Brief, in dem stand: ‚Eines geht mir gegen den Strich; dass wir uns nicht wiedersehen sollten’ gar nicht für sie. Vielleicht war er für ihre Frau!“ „Dann hätte ich mir jahrelang über das Falsche den Kopf zerbrochen.“ „Das haben sie doch.“
Die alte, geduldige Frau, die ihren Sonntagnachmittag ruhig zuhörend neben dem unbekannten Mann im Park gesessen hatte, stand auf und ging. Der Mann ging ebenfalls. Er stand auf und bewegte sich in Jeans und Turnschuhen zu der Beerdigung der schlichten Unbekannten. Er stand neben ihrem weinenden Mann Alfred und den Töchtern Lisa und Anna. Er sprach sein Mitleid aus. Niemand fragte, wer er sei. Bevor er nach Hause ging, klopfte er dem frischen Witwer auf die Schulter: „Das wird schon wieder.“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Danach verschwendete er nie wieder einen Gedanken an die schlichte Unbekannte.
(Text von Carina Pesch)