„Tokyo, Tokyo“

Tokio. Noch bevor man ein Land kennt, kennt man es im Kopf. Da sind Bilder, Klischees und allerhand Informationen, die sich aufdrängen. Manche werden durch andere Bilder ersetzt, wenn man erst einmal im Land ist. Manche Bilder bleiben, obwohl das Bild da draußen ein anderes ist und wieder andere werden nur noch extremer gezeichnet, als würde einer mit einem schwarzen Edding alle Linien nachziehen. Bevor ich nach Japan flog, hatte ich jede Menge solcher Bilder im Kopf. Japan als das Land in Asien, das mich am wenigsten gereizt hat. Das ist doch gar nicht richtig Asien, das befindet sich doch nur zufälligerweise auf demselben Kontinent… Meine Klischees: weiß behandschuhte Hände pressen Menschenmassen in überfüllte U-Bahnen, Elektrohightech an jeder Ecke, bereits getragene Slips von kleinen Schulmädchen am Automaten zu kaufen für unausgelastete Geschäftsmänner… Und was davon stimmt wirklich?

In Tokio gibt es jede Menge weiß behandschuhte Hände, die aus Uniformen blitzen, aber sie pressen KEINE Menschenmengen in U-Bahnen. Sie gehen spazieren, schlendern Parks, Strassen und U-Bahn-Schächte entlang, um durch ihre Präsenz für Ordnung zu sorgen. Obwohl ich bezweifele, dass dies nötig ist. Denn die japanische Gesellschaft ist so ordentlich, dass es schmerzt. Bei den Menschen fängt es an- die Gesichtszüge wirken symmetrisch. Das, was als schön empfunden wird ist so ebenmäßig und glatt, dass man eine Seite zuhalten und durch Spiegelung den fehlenden Teil erraten kann. Die Modells auf Plakaten wirken durch ihre Symmetrie, Ebenmäßigkeit und Glattheit so unnahbar und weit entfernt, dass sie nicht von dieser Welt zu sein scheinen. In den U-Bahnen sieht man die Gesichter von dieser Welt. Sie geben sich Mühe den Modells von den Plakaten das Wasser zu reichen. Die jungen Mädchen haben aalglatte schwarze Haare, in denen sich das kalte Neonlicht der U-Bahn spiegelt. Eine holt ihren Taschenspiegel aus der makellosen Handtasche, um sich den Pony wieder in seine exakt berechnete Position zu kämmen. Der Pony ist ein Rechteck, das vom Haaransatz bis zwischen die Augenbrauen reicht, die Breite der Nasenwurzel hat und genau mit den Brauen abschließt, dort zwei Rechte Winkel bildet. An den Bahnsteigen der Metro sind die Stellen, an denen die Türen sein werden, wenn die Metro hält, markiert. Die Menschen hier strömen zu Tausenden in die Metroschächte, auf die Bahnsteige und reihen sich umgehend in symmetrischen Zweierreihen entlang dieser Markierungen auf. Es gibt kein Gedrängel, sondern geordnetes Ein- und Aussteigen.

Bereits bei der Einreise am Flughafen fällt uns auf, dass sich vor der Passkontrolle für japanische Staatsbürger automatisch und ohne Anweisung nette kleine Zweierreihen bilden. Vor der Passkontrolle für Ausländer herrscht Chaos und Gedrängel, obwohl die japanische Verwaltung freundlicherweise Bänder gespannt hat, um den orientierungslosen Neulingen den Weg zu lieben Zweierreihen zu weisen. Solch eine Ordnung, die reibungsloses Funktionieren ermöglicht, liegt dem Japaner im Blut. Die ordentlichen Reihen sind überall. Nach dem Einreihen auf den U-Bahnsteigen setzt man sich umgehend auf die Sitzreihen. Die Knopfreihen der vielen aufgereihten Anzüge von der Stange sitzen in Reih und Glied. Immer wieder sackt ein Kopf auf die Knopf bereihte Brust eines Anzugträgers, liegt da wie nicht zum Körper gehörig und macht kurz Pause vom Einreihen. Chronische Überarbeitung verlangt Pausen zwischen A und B. Das nennt man Powernapping. Es gibt sogar ein eigenes Wort für Tod durch Überarbeitung im Japanischen. Schicke, ordentliche Kleidung wohin man sieht, wie geradewegs aus dem Katalog gesprungen. Springt der Japaner einmal kurz vom Alltag zur Erholung in den Park oder aufs Land, dann tut er das organisiert in Gruppen zu zwanzig Leuten, die alle hübsch und zur besseren Zuordnung dasselbe T-Shirt oder dieselbe Kappe tragen. Das einzige, das auf mich unordentlich wirkt, ist die japanische Schrift, die aus wirren unzusammenhängenden Strichen und Bögen besteht und von überall her blinkt und den armen orientierungslosen Neuling ahnungslos im Stich lässt, wenn er seinen Weg durch die Ordnung sucht. So groß ist das Schriftchaos, dass man meist sogar die wenigen englischen Buchstaben übersieht, die einem den Weg zur eigenen Ordnung weisen könnten.

Hightech gibt es auch. In riesigen Geschäften mit vielen wirren Schriftzeichen unter Neonlicht reihen sich Laptops, massig Computerspiele, Kameras, Handys, I-Pods und Stereoanlagen. Es blinkt und hupt, dazwischen stehen neon gekleidete Marktschreier mit Megaphonen und spucken den Konsumierenden Schriftzeichen in die Ohren. Die jungen Menschen in Tokio haben ständig ihr Handy am Ohr oder tippen emsig Nachrichten, spielen Spiele. Meist haben sie mindestens zwei Handys dabei- eins für die Tasche, eins fürs Ohr. In den U-Bahn-Tunneln- makellos weiß gekachelt und ewig lang- läuft Vogelgezwitscher vom Band. Echte Vögel sieht man auch über der Erde nicht mehr. Selbst die robuste Stadttaube wurde in die abgelegenen Stadtviertel verdrängt. Man kann bestimmt eine Woche nur unterirdische Tunnel entlang eilen und sich im unterirdischen Tokio verirren. Laufbänder erstrecken sich in den Untergrund-Tunneln von A nach B. Bei B steigt man auf die Rolltreppe um, so dass man eigentlich nicht mehr laufen müsste, hätte man es nicht so furchtbar eilig. Überall in diesem Untergrund-Tokio gibt es kabellosen Internet-Zugang. Im eilenden Schritt wird der Laptop aufgeklappt und schnell der nächste Termin per InstantMessage vereinbart.

Die Rolltreppe am Ende B des Laufbandes führt endlich wieder Richtung Tageslicht. Leider nur „Richtung“ Tageslicht, denn das wenige Sonnenlicht dieser Jahreszeit muss durch Smog und Hochhausschluchten zum Himmelsucher gelangen. Ohnehin wird der Himmel suchende Blick vom Aufflackern der gigantischen Reklametafeln abgelenkt. Will man Himmel sehen, fährt man in den 45. Stock des Neuen Rathauses von Tokio. Doch der Blick nach unten über das Meer aus Stadt ist dann doch spektakulärer.

Also kein Blick in den Himmel zur Entspannung. Die findet man mit etwas Glück durch eine Fußreflexzonenanlage zwischen Hochhäusern. Man zieht die schweren Schuhe aus, die einen den ganzen Tag durch Neontunnel tragen und kleine Steine in allen Formen bohren sich in die Füße. Die Steine liegen einbetoniert auf einem Podest; es gibt runde, eckige und sehr spitze. Es schmerzt in den Reflexzonen, aber hinterher hat man das Gefühl, gerade erst los gelaufen zu sein. Auch einer der künstlich angelegten natürlichen Parks mit roten Bäumen, Wasserfällen, Steinpfaden und kleinen Schreinen kann für Erholung sorgen. Allerdings scheinen sich auch hier die Lungen nicht von der klimatisierten Abgasluft Tokios erholen zu können, denn die Japaner tragen weißen Mundschutz zur Entspannung im Park. Hightech hat eben seinen Preis.

Doch das faszinierendste Hightech-Phänomen war bisher ein Gang auf die öffentliche Toilette im U-Bahn-Getümmel: Die Klobrillen sind beheizt und auf Knopfdruck werden kleine Wasserdüsen ausgefahren, um den Hintern zu Waschen. Der nächste Knopfdruck lässt einen Fön aus der Kanalisation erscheinen, der das ganze wieder trocknet. Der Nachteil dieser gut durchdachten Erfindung liegt mal wieder in der Unwissenheit. Denn die Bedienungsknöpfe befinden sich auf Armlehnenhöhe, so dass es leicht passieren kann, dass man aus Versehen einen Knopf betätigt, vor Schreck aufspringt, das Wasser weiter spritzt, man gar nicht weiß wie einem geschieht. Bis man sich seiner Lage bewusst geworden ist, ist die Toilettenkabine trotz Hightech nass, sowie man selber. Leider gibt es keinen Fön der auf Knopfdruck erscheint und das Dilemma trocknet. Mit nasser Hose trottet man zurück in den Neontunnel, fühlt sich ungeschickt und unordentlich zwischen all den ordentlich gestylten Japanern. Dabei fällt einem wieder das Schild an der Toilettentür ein, auf dem zwischen wirren Zeichen stand „Don`t make a wet floor“. Man hatte sich doch noch gewundert warum das da geschrieben steht. Wahrscheinlich war der Grund für diesen englischen Satz aus der Bedienungsanleitung zu entnehmen… aber die war auf unlesbarem Japanisch.

Tokio ist wohl nicht die richtige Stadt, um seinen Jetlack zu erleben….

(Von Carina Pesch)