Ein Kriegsreport von der Hamburger Schanze.
Der Abend beginnt mit Arafat. Er kommt aus Kamerun, ist Koch und besucht das Schanzenfest jedes Jahr. Ich komme aus Leipzig, bin neu in Hamburg und eher so etwas wie ein Zaungast auf dem Schanzenfest, ein Krawalltourist wie die Zeitung Hamburger Morgenpost Leute wie mich betitelt hat.
Ich habe davon gehört, dass es das Schanzenfest gibt, dass tagsüber das ganze Viertel ein großer Flohmarkt ist, Familien herum spazieren zu schöner Musik, ein bisschen fluffiger Elektro, ein bisschen Punk, ein bisschen Goa. Menschen sitzen auf der Straße und in Straßencafés, schlürfen Latte Macchiato und halten Schwätzchen. Man erzählt sich, dass abends die nicht verkauften Flohmarktwaren auf der Straße liegen bleiben, dann kommen die Wühlmäuse, die Obdachlosen und Studenten. Was auch sie nicht wegtragen, bleibt liegen und geht in Flammen auf. Dann beginnt die Schlacht: Pflastersteine fliegen, Wasserwerfer rücken an, Feuerwerk und Schlagstöcke, Autonome gegen Polizei…
Doch vorerst ist alles ganz ruhig. Hinter der Roten Flora – der letzten Bastion autonomen Lebens – stehe ich in der Sonne im Park, höre mit vielen anderen Menschen Elektro und beobachte eine alte barfüßige Frau mit weißen Haaren, Pippi Langstrumpf Zöpfen, Sonnenbrille und blauer Tunika wie sie zum Beat durch die Gegend springt. Ihre Zöpfe fliegen durch die Luft und sie strahlt wie der Heilige Grahl. Hippies mit wehenden Haaren stampfen barfuß im Staub herum, freuen sich und haben dreckige Füße. Zwei Spanierinnen werfen sich in Pose, lassen sich von ihren Muskelmännern in der Menge fotografieren. Von der Seite spricht mich jemand an:
„Hallo, was machst du eigentlich hier?“ Etwas verwundert: „Ich stehe hier so rum.“ „Magst du eigentlich Elektro?“ „Ich denke schon, sonst würd ich nicht hier stehen.“
Der Beat wummert, spielt Xylophon auf meinen Knochen und versucht mich zu packen.
„Ich bin eigentlich Arafat.“ Was? denke ich, sage: „Was du nicht sagst.“ Muss lachen. „Ich bin wirklich Arafat – ist mein Name“, sagt Arafat stolz und lacht ein sehr weißes Lachen. „Ich bin eigentlich Koch.“ Ich lache. „Wieso lachst du eigentlich?“ „Weil Arafat ständig eigentlich sagt.“ Arafat lacht. Ich gehe mir ein weiteres Bier holen. Auf der Vergnügungsmeile steht mitten auf der Straße ein Verkäufer mit 40 Kästen Bier, zwei Sorten, alle Kästen voll. Die Kästen türmen sich um den Verkäufer. Ein Astra, bitte. Doch er will mir keins geben. Er habe zu, sagt er. Aber was er denn mit all dem Bier machen wolle, frage ich. Nach Hause bringen, sagt er. Also, Hamburg ist wirklich anders.
Als ich wieder in den kleinen Park zurück komme, ist die Szenerie noch die gleiche. Fliegender Staub, wummernde Beats, wirbelnde Leiber und Fotohandys. Nur die alte Frau mit den fliegenden weißen Zöpfen ist verschwunden. Schade, denke ich. Jetzt habe ich niemanden mehr zu beobachten, der auch mich zum Strahlen bringt. Ich beobachte dennoch weiter. So geht es für Stunden. Dann möchte das Bier zur Toilette gebracht werden. Ich folge diesem Ruf. Aber nur ein Stück weit. Kurz vor der nächsten Kneipe springt mich das Bild eines Mannes an, der drei verschiedene Kameras um den Hals trägt. „Die hast du doch nicht nur zum Spaß um“, sage ich und zeige auf die Kameras. „Nein“, sagt er und sagt dann nichts mehr. Ich gucke ihn an. „Noch ist ja alles ganz ruhig.“ Er spricht die Worte langsam, verschwörerisch. „Aber das heißt nichts. Schon bald könnte hier was ausbrechen.“ „Ach so, und was machst du sonst so? Also, wenn du nicht auf den Ausbruch des Schanzenfest wartest?“ „Ich bin gestern aus dem Iran wieder gekommen. Proteste und so.“ – Aus Teheran zur Schanze. Im Hintergrund grölt der Sänger einer Punkband „Brigitte, geile Party“.
Mir fällt wieder ein, dass ich eigentlich, wie Arafat sagen würde, ein Ziel hatte. Ich drehe mich auf dem Absatz um, in Richtung nächste Kneipe. Als ich die Straße wieder betrete, steht ein Sixpack Polizei neben mannshoch getürmten Bierkästen, Becks. Beide sind grün und stehen in Reihen. Dahinter verabschiedet sich die letzte Punkband von der Bühne: „Leute, geile Party. Passt auf euch auf. Wir dürfen leider nicht weiter spielen. Stay safe. Passt auf euch auf. Hier gibt es jemanden, dem wir ein Dorn im Auge sind. Passt auf euch auf…“
So oft wie der Punk da auf der Bühne sagt „Passt auf euch auf“, fängt er an mich zu langweilen. Der Fotograf bezieht Stellung, ordnet seine Kameras. Ich schlender wieder gemütlich zurück in den Park, zum Elektro. Aber nein. Das DJ-Pult wird abgebaut. Polizisten in langen Reihen und in voller Montur marschieren um den Platz. Ein anderer Afrikaner grinst mich an. Mir fällt nichts besseres ein als ein Peacezeichen zu zeigen. Dumm von mir. Er kommt näher: „Hey babe, let’s go.“ Hat der se noch alle? „They are coming. Heila selassi. You and me and mama Africa…“
Die Polizei marschiert weiter um den Platz. Ein paar Leute sitzen an einem Picknicktisch mit Bänken und spielen Percussion dazu. Der Rest wirft Steine, sitzt gemütlich auf der Wiese herum oder flieht nach Hause. Ab und zu fliegt Feuerwerk durch die Luft und bald wird es auch richtig schön aussehen. Denn es wird langsam dunkel.
Als es dunkel ist, erscheinen drei grelle Scheinwerfer am Ende des Parks. Langsam biegen sie um die Ecke und kriechen vorwärts. Vom anderen Ende des Parks tauchen drei weitere Scheinwerfer auf, bewegen sich langsam auf die anderen zu. Zwei Wasserwerfer rollen an. Durchsage:
„Räumen Sie den Bereich. Achtung. Räumen Sie den Bereich.“
Sie sehen aus wie Panzer. Doch Teheran. Aber statt Schüsse spritzt nur Wasser. Schwarze Kapuzenmännchen freuen sich über die Dusche und rennen erfreut gröhlend, die Arme gen Himmel gestreckt in die Wasserfontäne hinein. Polizisten stürmen die Vergnügungsmeile, ziehen sich in den Park zurück, preschen wieder vor, kommen zurück, werden immer mehr. Schwarze, grüne, Polizisten, Klappern auf der Straße von ihren Rüstungen, Rauch steigt auf. Eine Gruppe in grün marschiert immer wieder um den Park herum, dabei ziehen sie den Kreis immer enger, marschieren immer strammer. Ich stehe auf der Wiese und denke, kommt mir nicht zu nah. Ein Typ mit weißem Bauhelm auf dem Kopf huscht vorbei. Mit schwarzem Edding hat er sich PRESSE auf den Helm geschrieben. „Alles kein Problem, keine Panik“, ruft er mir im hektischen Vorübereilen zu. „Ich kenn das, alles schon erlebt, Krieg und so.“
Weg ist er. Ich stehe immer noch ruhig auf der Wiese. Die Polizei marschiert, kreist, stürmt. Da kommt eine Horde zurück von der Vergnügungsmeile, 20 Polizisten vielleicht. Die Nachhut sichert nach hinten ab, rennt rückwärts. Verfolgt wird die grüne Horde von zwei 13jährigen Mädchen. Sie kichern und rufen etwas schüchtern: „Geht nach Hause, los.“ Sie recken die Arme zum Himmel und weisen den klappernden Polizisten den Weg.
Ortswechsel. Auch der geduldigste Beobachter muss sich mal bewegen: Auf der Vergnügungsmeile brennen die übrig gebliebenen Flohmarktsachen, darüber fliegt Wasser, Pflastersteine, schwarze Silhouetten vor Scheinwerfern. Neben den Wasserwerfern stehen Polizisten, Megafone: „Bitte räumen Sie den Bereich, Achtung…“ Am Straßenrand Cafés und Kneipen: Die Bänke und Cafétische sind voll besetzt, Zaungäste, Krawalltouristen schlürfen Margaritas und Kuba Libre, bewundern die schwarzen Silhouetten im Scheinwerferlicht, das bunte Feuerwerk. Vor den Geldautomaten bilden sich lange Schlangen – mehr Geld für mehr Margaritas.
Manch Jugendlicher lebt in dem Trubel seine pubertäre Aufmüpfigkeit aus: Juppies in Cafés – herzlich willkommen. Ihr sitzt da aber gut – so schön nah an den Wasserwerfern. Ein etwa 14Jähriger bleibt vor den Biertischen stehen, kramt etwas Unrat aus der Tasche, ein Feuerzeug, zündet den Plunder an und platziert ihn vor der Margarita schlürfenden Menge. „Bitte räumen Sie den Bereich. Achtung. Bitte räumen Sie den Bereich“ ertönt aus dem Megafon. Die Kellner schließen geduldig die Fenster und Türen der Kneipe. Und dann: Wassermarsch. Der Junge lacht, die Krawalltouristen springen empört auf, schimpfen auf die Polizei, Wasser tropft aus ihren Haaren, der Kuba Libre in der Hand – verwässert.
Ich möchte zurück in den Park. Dort ist es ruhiger, dort kann man sich setzen ohne nass zu werden. Aber die Polizei versperrt mir den Weg. Sie haben eine Menschenkette gebildet, die Straße abgesperrt. Ich versuche einem Polizisten zu erklären, dass ich da vorbei wolle. Aber er darf mich natürlich nicht vorbei lassen. Die Stimmung ist ausgelassen, mir ist zum Scherzen zu mute. Ich sage: „Da“ und zeige mit dem Finger auf andere Leute. „Da sind jetzt aber Leute vorbei gegangen.“
Der Polizist dreht sich nach den anderen Menschen um, ich lache und schlüpfe auf seiner anderen Seite durch die Polizeikette hindurch. Zurück im Park marschiert das grüne 20er Grüppchen immer noch im Kreis, zieht den Kreis langsam enger. In der Mitte dieses Kreises sitzen Menschen friedlich im Gras, ich setze mich dazu und bekomme ein Bier geschenkt. Abendliche Grillstimmung. Was zum Teufel ist nur los in dieser Stadt? Ich bin doch in irgendeiner Persiflage gelandet, wo ist die versteckte Kamera?
Die marschierenden Polizisten haben mittlerweile den kleinen Hügel im Park eingenommen. Auf seiner Spitze thront ein hölzerner Materpfahl. Jetzt haben sie ihren Kreis endlich zugezogen. Rücken an Rücken lehnen sie am Indianerrelikt. Nach vier Stunden Marschiererei haben sie endlich den Gipfel erklommen, besetzt und den Materpfahl erobert.
Wenn dieses Ziel nun erreicht ist – na dann kann ich ja nach Hause gehen. Ich bin auch langsam müde und verwirrt. Doch der Weg nach Hause ist nicht leicht. Ständig versperren grüne Menschenketten Kreuzungen und Straßen. Rund 2000 Polizisten beteiligen sich an den Straßensperren, den Durchsagen, „Bitte räumen Sie den Bereich“, dem Wasserwerfen, den Eroberungsfeldzügen. Ich laufe Umwege, verlaufe mich – kenne mich schließlich noch nicht aus. Ich frage die Polizisten nach dem Weg. Meine Freunde und Helfer kommen aber auch nicht aus der Stadt. Sie können mir nicht weiter helfen. Wenn ich sie anspreche, zucken sie zusammen. Sie scheinen innerlich zu zittern. Fremd in einer Stadt, beauftragt unverständliche Aufgaben auszuführen, mit vier Stunden Anlauf Hügel zu erklimmen und Materpfähle zu erobern… Ich würde auch zittern.
Es gibt Geschichten von großen Polizeieinsätzen, da möchte man nicht in einer Uniform stecken. Die Straßenschilder ausgetauscht oder mit falschen Namen überklebt und schon rennen ganze Einheiten in die falsche Richtung, verlaufen sich hoffnungslos in der fremden Stadt. Die Einsatzleitung, über Funkkontakt immer mit dabei, ist völlig ratlos, kann auf den Stadt- und Einsatzplänen auch nicht mehr folgen und den Kurs korrigieren, weil die Informationen einfach nicht zusammen passen.
Genauso ratlos lässt mich auch dieser Abend, dieses Schanzenfest zurück. Arafat lebt, Teheran ist Hamburg, Steine werfen für ein paar verwässerte Kuba Libre. Immerhin finde ich meinen Weg nach Hause. Eine schwarze Silhouette erklärt mir freundlich den Weg, um im nächsten Augenblick festgenommen zu werden.