Erholung war gestern, heute kommt das Abenteuer, sagen wir uns und besteigen ein weiteres Boot: Mangrovenwälder, Sagopalmen, Bananenstauden und vereinzelt Dschungelbäume säumen einen beigefarbenen Fluss. Holzhütten stehen am Ufer im Schlamm, Menschen waten bis zum Kopf im Wasser durch den Fluss und fahren Einbaum-Kanus voll beladen mit grünen Bananen an uns vorbei.
Wir sind auf dem Weg zu den Mentawai, die Bewohner der Mentawai Inseln. Sie leben in Familienverbänden im Dschungel, verehren die Geister des Flusses, des Waldes, der Luft, der Erde und der Tiere, sind am ganzen Körper tätowiert und spitzen sich die Zähne an.
Nach zwei Stunden Fahrt verlassen wir unser Boot, klettern einen matschigen Hügel hinauf, rutschen wiederholt auch wieder hinunter und können uns schließlich doch oben halten. Wir balancieren auf glitschigen Baumstämmen, die im knietiefen Schlamm liegen, und stehen vor einer uma – dem traditionellen Haus der Mentawai. Vor dem Langhaus auf Stelzen tummeln sich leuchtend blaue Schmetterlinge im braunen Matsch. Über einen weiteren Baumstamm gelangen wir ins Innere der uma. Die nackten Füße Schlamm bedeckt sehen wir uns im Haus um. Über unseren Köpfen hängen Schweineschädel, Rinderschädel, Affenschädel, Schildkrötenpanzer, Krokodilköpfe, Vogelschnäbel, Federn, sowie geschnitzte und bemalte Holzvögel. Jede Trophäe an der Wand steht für die Seele des getöteten Tieres. Außerdem zeigt die Anzahl der Tierschädel, ob der Herr des Hauses ein guter Jäger ist.
Die Trophäen der Jäger
Eine uma von Innen
Die Wände sind bemalt: Affen hangeln sich da entlang, Schnörkel ziehen Bahnen um Trommeln, die mit Schlangenhaut bespannt sind und von der Decke hängen. Vorne hat das Haus eine Art Veranda, auf der meistens die Männer sitzen – nichtstuend und rauchend. Dann kommt ein Mittelteil, in dem abends die Rattanmatten zum Schlafen ausgerollt und die Moskitonetze aufgehängt werden. Hinten im Haus ist die Küche. Meistens gibt es zwei Feuerstellen, auf denen die Frauen den ganzen Tag Sago in Sagoblättern rösten. Sago ist ein Palmbaum, dessen Stamm man essen kann. Das Innere ist weißlich, weich und enthält viel Kohlenhydrate. Was in ganz Asien der Reis ist, ist hier Sago.
Eine uma am Fluss. Darunter wohnen die Schweine.
Unter dem Haus wohnen die Schweine, die frei herum laufen und zum abendlichen Sagomahl mit einer Bambusglocke gerufen werden. Hühner flattern herum, auch sie fressen Sago. Abgemagerte Hunde und nervig miauende Katzen – auch sie fressen Sago. „Ich mag Sago“, kann ich dazu nur sagen. Und vermischt mit Bananen schmecken die gerösteten Sagostangen richtig gut.
Aber das erfahren wir erst etwas später. Die Bewohner des Hauses sind nicht da, wir lungern im leer stehenden Haus herum, unser Guide ahmt Vogelrufe nach und lockt so zwei Mentawai an. Im Gänsemarsch trotten sie die Baumstämme über dem Schlamm entlang. Sie tragen Shorts und T-Shirts, der eine ist aber tätowiert. Sie wohnen zwar nicht in dem Haus, der Tätowierte ist aber der Bruder des Hausherrn. Er nimmt uns mit in sein Haus, das auf der anderen Seite des Flusses liegt. Die Häuser der Mentawai stehen immer so weit auseinander, dass die Schweine auch wieder zur heimischen Futterquelle zurückkehren und nicht beim Nachbarn landen.
Der Name unseres Gastgebers ist Aman Gresi. Aman bedeutet Vater und Gresi ist der Name seines erstgeborenen Kindes, seiner Tochter. Ab dem Zeitpunkt, an dem das erste Kind geboren wird, ist es bei den Mentawai tabu die Eltern mit ihren echten Namen anzureden. Sie werden von nun an nach dem Kind benannt. Aman Gresis Frau heißt Ba-i Gresi, also Mutter Gresi. Beide sind am Oberkörper, an Händen und Füßen tätowiert, blau-schwarze Linien ziehen sich über die dunkle Haut. Sie tragen viele bunte Perlenketten um den Hals, große Silberuhren am Handgelenk, Geschenke von Touristen. Aman Gresi trägt mittlerweile einen Lendenschurz aus roter filzartiger Rinde, dazu eine Gürteltasche von Nike. Shorts und Shirt trägt er nur, wenn er in die Stadt, die eigentlich ein Dorf ist, fährt. Ba-i Gresi trägt ein gelbes Tuch um die Hüften und einen ehemals weißen BH, den sie aber zum Arbeiten auszieht.
Barfuß und barbusig schleppt sie mit ihrer jüngsten Tochter große Stücke Sagostamm vom Fluss zum Haus. Sie zieht den BH wieder an, raspelt Sago, erst für die Hühner, dann für uns. Für uns mischt sie dem Sago Kokosnuss bei, wickelt es in seine Blätter und röstet es auf dem Feuer. Ich darf auch mal Sago einpacken, aber nur unter strenger Anleitung.
Erst wird Sago geraspelt …
… dann in seine Blätter gepackt …
… zugebunden …
… und über dem Feuer geröstet.
Danach sitzen wir auf der Veranda und kauen unsere Sagostangen. Die Mentawai rauchen dazu eine nach der anderen. Sie drehen jede Menge Tabak in kurze, getrocknete Bananenblätter zu dicken Zigarettenstummeln, die für drei Stunden reichen oder greifen auf unser Gastgeschenk, die Nelkenzigaretten zurück. So geht es bis zum Abend. Weißer Rauch hängt in der Luft, wir hocken mit den Mentawai auf der Terrasse, schauen hinaus ins Grün und kauen auf unseren Sagostangen herum. Ba-i Gresi knüpft nebenher ein Fischernetz aus buntem Plastikgarn zwischen zwei Bambusstangen.
Am nächsten Morgen machen wir uns nach Sago und Kaffee auf den Weg in ein Dorf namens Ugai. Die indonesische Regierung hat einige Mentawai in Dörfern angesiedelt, das nennt sich dann Entwicklungshilfe. Sechs Stunden Wanderung liegen vor uns, sechs Stunden durch den Dschungel.
Ich war schon öfter im Dschungel, in Thailand, in Uganda, im Amazonas… Doch dieser Dschungel ist anders. Im Großen und Ganzen besteht er aus Schlamm und Matsch. Darüber wuchern ein paar Bäume und natürlich Sagopalmen, doch eigentlich ist alles Schlamm und Matsch. Zumindest kommt einem das so vor, wenn man durch stapft. Die Mentawai haben Baumstämme über den Matsch gelegt, doch die sind rutschig und versinken im Schlamm. Dann fängt es auch noch an zu regnen. Die Stämme, die letzten Brücken versinken und verbergen sich vor unseren Augen. Mit unseren Bambusstöcken stochern wir in der braunen Brühe auf der Suche nach dem versunkenen Stamm, immer auf der Hut nicht den Halt zu verlieren. Einen Schritt neben den Stamm und man versinkt bis zur Hüfte im Matsch. Besonders gemein: Die Bambusstöcke bleiben auf der Suche nach dem versunkenen Baum gerne im Schlamm stecken, versucht man sie mit einem Ruck herauszuziehen, passiert es allzu leicht, dass man das Gleichgewicht verliert, zur anderen Seite taumelt und bis zur Hüfte versinkt.
Die Wanderschuhe sind bald durch- weicht und ich mache mir Sorgen um meinen Fuß. Eine Ameise hat mir ein Stück Haut vom Fuß gebissen und ich habe Angst, dass sich die offene Stelle infiziert. Aber das Nervigste ist unser Guide: Bei jedem Schritt, den ich mache, fragt er, ob ich Ok bin, ob alles in Ordnung sei. Ein Schritt mit rechts: „Are you Ok, Katharina?“ Ein Schritt mit links: „Katharina, you Ok?“ Ich springe über einen Bach: „Kathrina…“ Ich kann es nicht mehr hören. Schlamm, Matsch und ein Guide, der sich ständig um irgendeine Kathrina sorgt. Er hängt an meiner Geduld und Laune wie ein Parasit.
Als der Regen stärker wird, finden wir Unterschlupf in der uma eines alten Mannes. Er lebt allein, denn seine Frau ist gestorben und er hat nur Töchter. Töchter aber ziehen bei den Mentawai nach der Hochzeit in die uma der Familie ihres Mannes und so ist der alte Mann alleine. Zwischenzeitlich war er nicht allein, erzählt er. Eine US-amerikanische Ethnologin heiratete ihn für fünf Monate, um eine Feldforschung zu machen. Manchmal frage ich mich, was in diesen Ethnologenköpfen vorgeht: Eine Kultur, eine Liebe. Das ist ein weit verbreitetes Phänomen. Der Alte möchte erst kein Wort über seine Ethnologen-Ex verlieren, macht sich dann aber doch ein bisschen darüber lustig, wie sie sich beim Sex gebärdete.
Der Regen lässt nach, wir machen uns wieder auf den Weg und nach ein paar weiteren Stunden Schlammschlacht erreichen wir einen betonierten Fußweg. Die Regierung hat das Beton hier ausgeschüttet. Der Weg führt ins Dorf und in dem Dorf steht eine Kirche und die Bewohner haben so schöne Namen wie Bastianus, Thomasius, Laurentius und Franziskus. Hauptsache es hängt ein „us“ hinten dran. Die jungen Männer, die diese Namen tragen, tragen außerdem eintätowierte Kreuze an Stelle der traditionellen Linientattoos und reden sehr sehr erleuchtet, bedächtig und führen bei jedem Wort die Hand zum Herz. Ihr Lieblingsthema: „Ich bin (Hand zum Herz) katholisch. (bedächtige Pause) Und was (Pause) bist du? (Hand zum Herz des Angesprochenen)“
Dieses bedächtige Katholikengespräch findet in der uma eines alten, lustigen Mentawai statt, auf dessen Veranda sich Kinder tummeln, die ihn die ganze Zeit necken. Der Alte spricht weder indonesisch noch englisch. Alles, was er zu uns sagt, ist: „My name is Billy Joe.“ Er lacht die ganze Zeit und spielt mit den Kindern, er spielt immer den Bösen, aber die Kinder sind böser als er und ärgern ihn. Er tut als würde ihn das wütend machen und lacht. Die Kinder kichern und tummeln sich.
Billy Joe tut als könne er schreiben.
Am späteren Abend ruft uns Billy Joes Frau zu sich. Bisher lag oder saß sie die ganze Zeit im hinteren Teil des Hauses. Wir konnten sie husten hören und sehen wie sie sich dicke Zigaretten in Bananenblättern rollte, dichter Rauch aus ihren Lungen strömte. Sie ist dünn und runzlig, hat krauses, graues Haar, das sie wirr mit einer Kleinmädchen-Spange hoch gesteckt hat. Sie ist krank, seit zehn Tagen hat sie Bauchkrämpfe. Sie fragt nach Medizin. Wir versuchen herauszufinden, was ihr fehlt. Aber unser Guide hat keine Lust zu übersetzen, sagt die ganze Zeit nur „Ja, ja“. Uns scheint die alte Frau Wunderkräfte oder zumindest Wundermittelchen zuzutrauen. Daher tasten wir sie ein bisschen ab, sie sagt es tue überall weh, wir geben ihr eine Plastikflasche mit warmem Wasser als Wärmflasche und rühren ihr ein Päckchen Elektrolyte vor ihren Augen an. Das Ganze machen wir sehr wichtigtuerisch und ein bisschen umständlich. Wir setzen auf den Placebo-Effekt. Mehr können wir nicht tuen.
Am nächsten Tag streunen wir mit den Kindern durch das Dorf. Die meisten Häuser sind klein, es gibt kein sauberes Wasser, aber die Regierung hat jeder Hütte eine Solarzelle zur Stromversorgung spendiert. Dabei hat die Politik vergessen, dass Solarzellen in diesem Klima schnell kaputt gehen, dass es hier niemanden gibt, der sie reparieren kann und dass sauberes Wasser vielleicht wichtiger wäre als Strom. Viele der Menschen, denen wir begegnen sind krank, haben Ausschlag und Entzündungen. Mehrere fragen nach Medizin. Denn auch medizinische Versorgung ist kein Teil des Entwicklungsprojektes der indonesischen Regierung und auch nicht des katholischen Missionars, der sich hier breit gemacht hat.
In der Dorfschule. Medizinische Versorgung gibt es hingegen nicht.
Auch mein Fuß hat sich mittlerweile entzündet. Die Schlammpackung des vergangenen Tages hat eine eiternde Wunde gezeugt. So oft ich kann desinfiziere ich die Wunde, aber das hält nicht lange. Spätestens beim nächsten „Klogang“ muss ich wieder raus in den Schlamm, mir ein ruhiges Örtchen im Busch suchen und mich hinterher im Fluss waschen. Im Schlamm paaren sich Schweinekot und Menschenurin, Bakterien en mas.
Es nützt ja nichts. Wir müssen weiter, ich ziehe die nassen, schlammigen Schuhe über die Wunde und trotte los. Nur eine Stunde Weg liegt heute vor uns. Raus aus dem Dorf, zu einer großen Familie, in einer großen uma im Wald.
Drei Generationen wohnen hier unter einem Dach: Aman und Ba-i Laulau – die Eltern –, zwei Söhne (etwa 15 und 16 Jahre alt) mit ihren dreizehnjährigen Frauen, die gerade frischen Nachwuchs bekommen haben, und der älteste Sohn Laulau, der aber nicht mehr so genannt werden darf, weil er selber Kinder hat. Er heißt jetzt Aman Telepon.
Telepon ist tatsächlich das indonesische Wort für Telefon und so heißt sein ältester Sohn. Es ist schön, wenn es quer durch den Dschungel schallt: „Ba-i Telepon“, also „Mutter, Telefon“. Natürlich gibt es kein Telefon im Dschungel, selbst Flugzeuge am Himmel sind eine Sensation. Dann rennen alle wild durcheinander nach draußen, starren in den Himmel und sind ganz aufgeregt. Wir rennen auch mit nach draußen, ebenfalls aufgeregt, aber weil wir dachten, ein besonderer Vogel fliegt vorbei.
Der andere Sohn von Aman und Ba-i Telepon heißt Politik. Und nationale Politik ist erstaunlicherweise ein wesentlicher Bestandteil des Lebens der Mentawai. Morgen sind in Indonesien Parlamentswahlen und bei den Mentawai ist die Wahl Gesprächsthema Nummer eins. Ab und zu fahren Abgeordnete in den Dschungel, besuchen die Mentawai, lassen Geschenke da, lassen Geld da, lassen sich mit einer Mentawai-Familie fotografieren und fahren wieder in der Hoffnung die Stimmen aller Mentawai zu bekommen. Diese Rechnung geht aber nicht auf und dafür gibt es viele Gründe:
Die Mentawai leben in ihrer Familie, es gibt keine zentrale Machtposition aller Mentawai und so bleiben die Wahlgeschenke der Politiker bei einer Familie. Der Bestechungsversuch kann also auch nur dort funktionieren. Höchstwahrscheinlich scheitert er aber auch hier, denn obwohl viele wählen gehen wollen, dürfen sie nicht. Die meisten haben keinen Ausweis, existieren also für den Staat nicht und werden daher auch nicht zur Wahl zugelassen. Diejenigen, die bis zu den Wahlurnen vorgelassen werden, schaffen es oft nicht, die Partei zu wählen, die sie eigentlich wählen wollen. Die meisten können nicht lesen und schreiben. Bei der letzten Wahl hat die Politik darauf Rücksicht genommen. Es gab für jede Partei und jeden Kandidaten ein entsprechendes Foto. Dieses mal gibt es nur Nummern und den geschriebenen Namen der Partei.
Der Vater unseres Gastgebers steht also vor der Urne und versucht sich zu erinnern, wie die merkwürdigen Zeichen neben seinem Favoriten aussahen. Er schafft es nicht und kreuzt etwas anderes an. Später findet er heraus, dass er die falsche Partei gewählt hat. Doch das stört ihn nicht, er war schließlich wählen. Und das ist es, was den Mentawai wichtig ist: nicht was sie wählen, sondern dass sie wählen. Sie wollen ein Teil des Ganzen sein, wollen das Recht haben zu wählen. Große Erwartungen an die Politik haben sie scheinbar nicht. Ab und zu ein Wahlgeschenk, aber es gibt ja auch noch Touristen und Ethnologen – die bringen auch Geschenke mit.
Während einige Mentawai den Urnengang ins Dorf antreten, verbringen wir den Tag am Fluss. Mehr gibt es nicht zu tun. Das Leben der Mentawai scheint größtenteils aus rumsitzen, rauchen und Sago rösten zu bestehen. Wir gehen baden und erkunden die Gegend. Am Ufer des Flusses wimmelt es von kleinen schwarzen Fliegen. Wir denken uns nichts weiter dabei. Abends denken wir aber: ‚Hätten wir uns mal etwas dabei gedacht‘. Arme, Beine, Füße – alles juckt, alles voll mit winzig kleinen Stichen, von denen wir die nächsten drei Wochen noch etwas haben sollen. Dazu kommen die Mücken, aber deren Stiche kann man wenigstens ignorieren, dann hören sie auf zu jucken. Das ist bei den kleinen Sandfliegen-Stichen nicht der Fall. Dafür übertragen die Mücken hier Malaria. Wie man es dreht und wendet, dieser Dschungel ist ein Paradies aus Schlamm, Ungeziefer und Bakterien. In der Nacht kratze ich einen der Stiche auf: Er wird Nummer zwei meiner Eiterbeulen am Fuß. Nichts als Parasiten.
Und dennoch lohnt sich dieses Paradies. Die Menschen sind einfach so faszinierend. Um so älter sie werden, desto lustiger werden sie. Die Alten scheinen nicht mehr viel zu sagen zu haben und lachen nur noch den ganzen Tag. Mentawai lachen eigentlich nicht, sie gibbeln und brechen permanent in Lachanfälle aus. Der Vater von Aman Laulau entdeckt bei unseren Sachen ein Messer, das ihm gefällt. Doch das Messer gehört Niklas und der will es nicht hergeben, da es ein Geschenk seiner Schwester ist. Der Alte setzt sich neben ihn, lacht und rückt immer näher, bis er fast auf Niklas Schoß sitzt. Doch auch das ist dem Alten in seinem Lendenschurz noch nicht nah genug. Man muss wissen, dass in Südasien Berührungen zwischen Männern zur Freundschaft gehören. Der Alte umarmt Niklas, knuddelt ihn, umklammert seine Hüfte und drückt seinen Kopf an Niklas‘ Brust. Durch Gesten gibt er zu verstehen, dass der weiße Mann aber viel esse, dass er dick sei, er zeigt auf den weißen Bauch und kneift hinein. Dann steckt er gibbelnd das Messer in seine Bauchtasche. Das Spielchen zwischen den beiden geht noch lange weiter. Am Ende gibt der Alte das Messer lachend zurück. Er schüttelt sich vor lachen.
Das Lachen vergeht mir allerdings, wenn ich an unseren Guide denke. Wie ein Blutegel hängt er an unseren Nerven. Er übersetzt nichts, er versteht unsere Fragen nicht, er hört uns gar nicht erst zu. Das einzige, was er immer wieder erzählt: „She doesn‘t understand. If she wants a sex, she doesn‘t understand. She has baby very young. She is primitive.“ Danke für die Information. Man kann Parasiten ignorieren, aber Parasiten Geld zu bezahlen, dafür, dass sie einen aussaugen – da reißt irgendwann der Faden der Geduld.
Wieder zurück in der Stadt wollen wir Geld zurück. Schon klar, dass man Geld, das man in Asien einem Parasiten in den Schlund wirft, nicht einfach zurückbekommt. Wir versuchen es trotzdem. Wir sagen nur, dass wir mit ihm reden wollen und schon fängt er an uns zu beschimpfen. „Fuck you, you are shit, it‘s all your fault, what do you fucking want to complain about?“ Plötzlich wird sein englischer Wortschatz etwas umfangreicher. Und das obwohl er eindeutig betrunken ist. Wir bekommen unser Geld natürlich nicht zurück. Dieser Parasit hat es längst verdaut.
Der Rückweg. Gut gelaunt schwingt der Guide seine Mütze.
Schade nur, dass die Mentawai von dem Geld so wenig abbekommen. Denn die Guides, auch wenn sie nicht parasitär an den Nerven der Touristen hängen, geben ihnen kaum etwas ab. Nach mehr fragen – das kommt für die Mentawai nicht in Frage. Geld stellt man nicht über eine soziale Bindung. Und meistens wissen sie nicht einmal, dass die Guides viel Geld von den Touristen bekommen. Wir erfahren aus dem Gespräch mit einem französischen Ethnologen, dass sie sich fragen, wer die Touristen bezahlt, damit sie in den Dschungel zu ihnen gehen. Sie dachten, Tourist sein sei ein Beruf. Dass die Touristen viel Geld bezahlen, um sie, die Mentawai, zu sehen – das ist ihnen unbegreiflich.
(Text und Bilder von Carina Pesch)