Optical New Year Schmausing

Nagoya. Für den Übergang vom alten zum neuen Jahr geht es nach Nagoya: eine Zwei-Millionen-Stadt mit einem der drei wichtigsten Schinto-Schreine, Atsuta Jingu. Hier wird das heilige Schwert aufbewahrt, dass der Kaiserfamilie von einer Göttin überreicht wurde. Hier wird am Jahresende für das vergangene Jahr gedankt und am Jahresanfang der Segen für das Kommende eingeholt. Die Expo-Weltausstellung fand ebenfalls 2005 in Nagoya statt. Alles in allem eine moderne, durchgestylte Stadt mit etwas Tradition.

Erste Schritte durch Nagoya im letzten Atem des Jahres:

Ankunft. Es ist Nachmittag, die Sonne hinter diesigem Himmel verschwunden- alles wie meistens in Millionenstädten. Das U-Bahn-Netz erstreckt sich in weiß gekachelten, klinischen Tunneln. Die Kacheln geputzt, spiegeln das kalte Neonlicht. Es dudelt Entspannungsmusik und Vogelgezwitscher vom Band. Alles ganz normal. Dank der Expo ist die englische Beschilderung hervorragend. Ein Unterschied zu Tokio: die weißen Tunnel sind menschenleer. Als einsamer Maulwurf wühlt man sich den Weg zur Bahn. Ruhe und Stille. In der Bahn, einige Menschen. Sehr schicke, merkwürdige Gestalten. Gestylt. Auch ihre lässige Nachlässigkeit in der Kleidung wirkt gestylt- Eine jung Frau im langen dunkelgrünen Ledermantel mit außerordentlich großen, aufgenähten Taschen und Knöpfen, erdbeerrote Stiefel bis zu den Knien im Dreieck des herunterhängenden Mantels, die dünnen Beine übereinander geschlagen. Ein buntes, hoch geschlossenes Kleid mit riesigem Rüschenkragen, ein erdbeerroter Haarreif aus ineinander greifenden Ringen auf schwarzem Zottelhaar, dahinter weiße Hartplastikkopfhörer mit schwarzen Musiknoten darauf. Das weiße Mobiltelefon aufgeklappt in der Hand. Der Kopf wippt zur Musik auf und ab. Ein blauer Reisekoffer zu Füßen. Wie auf einer dieser modernen Japanfotografien. Urbanes Leben. Frauen mit hochtoupierten Haaren, viel Make-up im Gesicht, ordentlichem Lidstrich, Miniröcken, Pelzjacken, teuer aussehenden Einkaufstüten auf dem Schoss, in Nuttenstiefeln steckend blicken konzentriert in kleine Handspiegel, fahren sich unentwegt mit den Händen durchs Haar. Hinterher sieht alles aus wie zuvor. Modepüppchen werden meist von Playboys begleitet- wirr gegeelte Haare, goldumrahmte Sonnenbrille, stehender Hemdskragen, Lederjacke, abgewetzte Jeans und spitze Cowboystiefel. Das Gesicht schreit vor Coolness, die Stirn leicht in Falten, denn zum Cool-Sein muss man leicht die Augenbrauen hochziehen.

„Imaike, Imaike“ das ist meine Station, einreihen, aussteigen. Wenige Minuten später gebe ich das Maulwurfdasein auf, steige aus einem der gläsernen Maulwurfhügel ans diesige Tageslicht.

Meine Unterkunft ist dieses mal ein Capsule- wohl ein ins Wellnesscenter integriertes Hotel mit kleinen Zimmern. Mehr weiß ich bisher nicht. Es ist das billigste in der Stadt. Die gläserne Schiebetür öffnet sich- wieder Entspannungsmusik, Wasser rinnt draußen über die Scheiben, heller Teppichboden, die Schuhe müssen vor Betreten ausgezogen werden. Auf Socken stehe ich vor der Rezeption. Schummriges Licht, kleiner Wasserfall, viel Gold. Das Servicepersonal lächelt freundlich in Uniform, spricht aber nur japanisch. „Capsule, capsule“ sage ich, zeige eine Eins mit dem Finger, hoffe auf Verständnis. Siehe da, es funktioniert. Ich bekomme vier Schlüssel und einen orangefarbenen Plastikstreifen, auf dem „Apaiser“, der Name des Etablissements, steht. Sie nehmen mir mein Portemonnaie weg und den Schlüssel für das Schließfach, in dem meine Schuhe stehen. Ein Herr in weiß weist mir den Weg durch einen lachsfarbenen Vorhang, auf dem eine antike Griechin abgebildet ist und „women only“ steht. Ich gehe die Treppen hinunter- eine weitere Rezeption, an der mir eine weitere lächelnde Uniform den orangefarbenen Plastikstreifen abnimmt. Im Gegenzug überreicht sie mir feierlich einen lachsfarbenen Seidenbeutel- Zwei weiße Handtücher, lachsfarbener Pyjama, weiße Fußsöckchen. Sie zeigt in eine Richtung, ich folge dem Finger, gelange zu weiteren Schließfächern. Und nun?

Dazwischen wimmelt es von nackten Frauen, Frauen in lachsfarbenen Pyjamas und Frauen in weißen Handtüchern. In einer Ecke gibt es Fußmassage und Pediküre. In einer anderen stehen Automaten- Getränke und … Slips. Bewahrheitet sich da etwa ein Japan-Klischee? – Nicht ganz. Die Slips sind eingeschweißt, neu und hygienisch sauber. Aber wer weiß schon, was auf der Herren-Entspannungsebene aus dem Automaten kommt… Das werde ich nie erfahren, denn es gibt sogar getrennte Damen- und Herrenaufzüge. Die Geschlechtergrenze bleibt verschlossen.

Ich weiß aber immer noch nicht, was ich zwischen den nackten Frauen und Schließfächern soll. Schließlich möchte ich hier nur übernachten. Doch wohl nicht im Schließfach. Das wäre aber wirklich sehr klein. Ein Schließfach hat denselben Buchstaben wie einer meiner Schlüssel, mein Rucksack passt dort hinein. Also schließe ich erst mal meinen Reiseballast weg.

Dann geht es wieder zur ersten Rezeption. „Capsule, capsule“ ein erneuter Versuch. Der Mann in weiß zeigt auf den Aufzug mit der Griechin und eine Fünf mit der Hand. Also auf zum Fahrstuhl und in den fünften Stock. Wieder eine Rezeption- „Capsule, capsule“. Die Dame weist auf eine Tür. Na endlich, Schlüssel Nummer 2 passt zu dieser Tür und auf der Tür steht sogar in Englisch „Lady’s Capsule“. Dahinter griechische Statuen und lilafarbenes Plastik.

Was ist das? Ich muss lachen. Auch wenn mich keiner hört und erst recht keiner mitlacht. Ich lache und denke ‚wie absurd‘. Ich stehe vor lila Plastikkojen, zweistöckig. Der Eingang zu einer Koje einen Meter breit. Drinnen ist alles aus einem cremefarbenem Stück Plastik gegossen- Spiegel, Fernseher, Wecker, Radio, eine Matte, Decke und hartes Kopfkissen. Alles auf der Größe einer Koje wie man sie auf einem Schiff finden kann, nur eben aus Plastik. Wie praktisch, da macht sich die Mülltrennung doch bezahlt. Wahrscheinlich eine Koje aus Plastikmüll, Plastikreispackungen und Petflaschen. Der Meter-Eingang lässt sich mit einem stilvollen Holzrollo verschließen. Das also ist ein Capsule- die gewagte Mischung aus griechischer Mythologie und Hartplastik.

Die Luft so trocken, dass man kleine Eiterpickel bekommt. Die kann man sich in der vierten Etage im Beautysalon wegdrücken lassen. Die private Kleidung wird gegen lachsfarbene Einheitspyjama eingetauscht, das Klo öffnet sich bei Betreten selbsttätig und regt mit Wasserfallgeplätscher zum Pinkeln an, die Automatik wäscht einem hinterher den Hintern, es gibt Zahnbürsten und Rasierer umsonst und in einem Extraraum kann sich an Spielautomaten vergnügt werden. Anschließend eine Massage, ein überteuertes Essen auf Etage drei und Relaxen im Healing Room. Eigentlich ist an alles gedacht. Man muss gar nicht mehr raus gehen. Ich gehe trotzdem raus, tausche meine Individualität nicht gegen lachsfarbene Einheitspyjama, auch nachts trage ich lieber meinen eigenen. Zumindest die erste Nacht, denn Hartplastik und schlecht klimatisierte Luft treiben den Schweiß aus den Poren. Da schwitze ich doch lieber lachsfarbene Einheitskleidung voll.

Die Sylvesternacht:

Hinter alten Zypressen verborgen liegt der Atsuta Schrein. Auf den Zypressen wuchert grünes Gras wie Baumbehaarung, alles ist mystisch beleuchtet. Ein magischer Ort. kein Wunder also, dass Schintopriester sich hier niederließen, hätte ich auch gemacht. Was allerdings doch verwundert, ist wie an diesem Ort der Jahresanfang zelebriert wird. Man vermutet gediegene, heilige Stille, göttliche Erhabenheit, unverständliche Riten, Trommelarien und hallende Gongs. Es wäre auch nicht weiter verwunderlich, wenn zwischen den grün behaarten Bäumen maskenartige Geister schweben oder Hexen auf Besen reiten würden. Aber sein wir doch mal ehrlich- das hier ist ein hochmodernes Land, Japan eben, und Nagoya ist eine Millionenstadt. Wer würde sich da zu solchen Albernheiten hinreißen lassen?

Stattdessen säumen Fressbuden mit bunten Lichtern und Japanzeichen den Weg. Es gibt Nudeln aus Pappbechern, Octopusbällchen, leuchtende Plastikschwerter, Hello Kitty Masken und zuckersüße Crepes, in denen himmelblaue Mickey Maus Köpfe aus Schokomasse stecken. Dazwischen schlendern aufgetakelte Menschen im Ausgeh-Outfit- auch die sehen manchmal aus wie Mickey Mäuse. Die Röcke der Damen sind noch ein bisschen knapper als in der U-Bahn, die Stiefel dafür höher. Rüschenstrapse lugen daraus hervor. Die Gesichter der rasant frisierten Herren sind noch cooler als untertage, ihre Schritte klappern unter spitzen Stiefeln und die Oberlippenbärte sind frisch rasiert. Selbst die Hunde tragen Festtagsmontur: ein bulliger Kampfhund im Trikot, ein Spitz in engen, abgewetzten Jeans und passender Jacke dazu, ein Pudel mit Pelzkapuze am Mantel. Auch nachts trägt man natürlich Sonnenbrillen und ab und zu huscht ein Manga-Weibchen über die Bildfläche.

Vor dem majestätischen, alten Holzschrein liegt weißes Tuch auf den Stufen aus. Alle schicken Menschen bleiben andächtig stehen, still und leise, legen die Handflächen vor der Stirn aneinander, verharren in Ehrerbietung, klatschen zwei mal in die Hände. Klatsch, klatsch… klatsch, klatsch schallt es von überall. Anschließend wird in die Tasche gegriffen, Geld auf das weiße Tuch geworfen. Das Klirrt. Eine Spende an die irdischen Götter bis alles auf dem weißen Tuch silbrig und golden schimmert. Alle stehen sie da, andächtig- die Mickey Mäuse, Hello Kitty Masken, Manga-Weibchen, Nuttenstiefel, Playboys, einige ernst zu nehmende alte Menschen, Bucklige und ganz normale. Um 0 Uhr schlägt 108 mal ein Gong. Das Jahr 2007 hat begonnen. Ich packe meine Stielaugen ein, genug Menschen beobachtet und nehme eine volle U-Bahn in meine Plastikkoje.

Neujahr:

Ich wache morgens auf. Übel riechender Schweiß in der Plastikkapsel. Frühstück gibt es aus dem Supermarkt, denn alles andere hat heute geschlossen. Mit Kaffee aus der Dose, Ananas, einem Stück Kuchen, Orangensaft im Tetrapack setze ich mich vor den Supermarkt. Hinter mir die Strasse, unter mir ein leerer Blumenkübel, vor mir eine Raucherecke. Zugegeben nicht der schönste Frühstücksort. Aber ich habe Hunger, der Himmel ist heute auch in einer Millionenstadt blau und die Raucher rauchen heute besonders genüsslich. Feierlichkeit liegt in der Luft. In Japan gibt es gleich drei Feiertage zum Jahresanfang. Mit meinem Deluxe-Frühstück im Bauch und etwas Dosenkoffein im Kopf mache ich das, was heute alle Nagoyaner tun. Ich pilgere erneut zum heiligen Schrein. Eigentlich das gleiche wie gestern, nur dass heute noch mehr Menschen hier sind, darunter auch einige traditionell schicke. Prächtige Seidenstoffe, wuchtig gebundene Schleifen, Kimonos stöckeln auf hohen Holzflipflops die überfüllten Wege entlang. Die Haare sind mit Blumen und allerhand Silbergebaumel rundlich hoch gesteckt. Auch einige Männer tragen Kimonos, wesentlich schlichtere allerdings und nur die ganz alten, weise aussehenden tun das. Bei den Damen sind es erstaunlicherweise die sehr jungen, vielleicht sogar dieselben, die gestern noch Rüschenstrapse unter Miniröcken trugen.

200 Meter steht die buntgemixte Schlange an, um zum Schrein zu kommen. Sie ist nicht nur 200 Meter lang, sondern auch fünf Meter breit und kriecht sehr langsam vorwärts. Jedes Schlangenglied zwängt sich brav durch die engen Tempeltore, über ihr neigen die alten Zypressen ihre Kronen. Ich stehe in der Schlange und bestaune die Menschen. Als ich zum Vorplatz des Schreins gelange, dämmert es bereits. Auf dem weißen Tuch auf den Stufen häuft sich das Silber und Gold, auch einige Scheine sind dabei. Japaner sind aber spendabel zum Jahresanfang. Was haben die Priester ihnen nur dafür versprochen? Einen neuen Tempel könnte man von dem Geld bauen.

Im Schrein steht ein Schintopriester im weißen Gewand mit grünem Wischmopp auf dem Kopf. Er schwenkt einen Zweig über gebeugten Häuptern, segnet sie und das Kommende. Wenige Meter weiter klatschen Menschen vor den Toren, hinter denen das heilige Schwert verborgen liegt. Am Ausgang stehen zwei Nonnen in wehenden weißen Hosen, roten Schürzen und mit schwarzen Zöpfen. Sie schenken Sake- japanischen Schnaps- in weiße Plastiktellerchen mit Blumenornament, reichen jedem Gast eines mit entzückendem Lächeln. Der Neujahrstrunk, gesegneter Schnaps im Tempel. Für den Nachhauseweg gibt es rosa Zuckerstücke in Blumenform zum Naschen… Alles sehr heilige Massenabfertigung. Das schönste und spannendste sind die vielen Menschen, was sie schick finden und wie sie flanieren.

Am zweiten Feiertag ist wieder Konsum angesagt. Da füllen sich die weiß gekachelten Tunnel unter der Stadt. Massen stürmen heute nicht zu Schreinen, sondern zu angesagten Boutiquen. Ein heiliger Feiertag mit geschlossenen Geschäften hat Kaufkraft angestaut. Pilgertag für Modevamps. Warum nicht auch den hippen Modegöttern zum Jahresanfang Respekt erweisen? Vor den Läden bilden sich Schlangen, um überhaupt hinein zu kommen. Adidas verschenkt Tonnen in Hockergröße voller Werbegeschenke und auf begrünten Plätzen sitzen gestylte Twens zwischen Tausend Einkaufstüten, zeigen sich die neu erworbenen Trends des neuen Jahres, verneigen sich anerkennend vor den Kleidungsstücken wie gestern vor dem heiligen Schwert. Geklatscht wird natürlich nicht, auch nicht die Hände aneinander gelegt, dafür thront man auf Adidas-Werbetonnen. Ein überfülltes, teures Shoppingparadies. Wunder des Kapitalismus. Moderne Marktwirtschaft macht s möglich. Heilige Tradition- das war doch gestern. Ein frohes neues Jahr und mit Vollgas in die Zukunft.

(Text und Bild von Carina Pesch)