Bessho Onsen. Ein kleiner behauener Stein mit zwei Göttern darauf, steht mitten in den Bergen zwischen Häusern am Wegesrand. Daneben ein in der schwachen Sonne blitzender Metallbehälter in Pilzform mit einer Schiebetür zum Öffnen. Hinter der Tür befinden sich zwei heilige Stempel- ein großer, ein kleiner; ein roter, ein blauer. Sie zeigen das Götterpärchen. Der Aufstieg auf den Berg soll sich doch lohnen, und so gibt es heilige Stempel als Souvenir.
Die Berge liegen noch in der diesigen Morgenluft, Nebel hüllt sie ein, verbirgt sie hinter dicken und dünnen Schleiern, so dass sie in Ebenen wie Märchenkulissen verschwimmen. Die Bäume an den Hängen stehen dicht an dicht, aufgestellt wie auf einer Bühne. Im Reiseführer steht- nur drei Bäume in Japan sind noch original. Der ganze Rest ist aufgeforstet worden, nachdem die achthundertjährigen Bäume für Einwegstäbchen und Zahnstocher herhalten mussten.
Die Häuser zwischen den Nebelbergen am Hang sind einfach- aus Lehm, aus Wellblech, aus Holz. Manchmal finden sich ganz eigenartige Kombinationen- ein Unterstand besitzt beispielsweise vom Boden aufwärts zwei Meter lachsfarbene Marmorfassade, darüber blaues Wellblech, das in ein schwarzes Strohdach mündet, welches das Gebilde rundlich abschließt. Umgeben von Reis- und Kohlfeldern schlummert die Siedlung mit Blick auf Berg und Tal. Die Stimmung verschlafen, unwirklich. Kein Mensch auf der Strasse, die Häuser verschlossen, nirgends ein Blick ins Innere. Als wäre all dies nicht wirklich da, nichts das präsent ist, das sich fassen lässt. Die Hand reicht nach einer Fassade aus Lehm, die bröckelt. Ein Loch im Lehm lässt durch Geflecht ins Innere blicken- Holzdielen, Absätze, Leere. Der Lehm bröckelt in der Hand, die Hand zerreibt ihn, kein Geruch. An einfachen, verschlossenen Häusern hängen leere Wäschespindeln. Aufgefädelte Kakifrüchte schwingen vor Fenstern im sachten Wind.
Der Weg führt weiter die Strasse entlang – die EINE Strasse, die es hier oben gibt – zwischen Zedern und Bambus langsam ins Tal. In dieser Abgeschiedenheit steht ein blau uniformierter Mann mit weißem Helm auf dem Kopf, weiß behandschuhten Händen und einem orange leuchtenden Schwert in der rechten Hand. Diese Herren kenne ich aus Tokio- es sind dort Polizisten, die mit Leuchtschwertern Passanten den weg weisen. Laserschwerter wie sie Darth Waider und Obiwan in Star Wars haben. Geschickt drehen die Ordnungshüter die Schwerter in Kreisen durch die Luft. Nach den Samurai die Lasersamurai auf den Strassen der Industrienation. Bevorzugt stehen die Lasersamurai in verlassenen Gassen, um auf Hindernisse hinzuweisen, oder sie regeln auf leeren Straßen den Verkehr. Sie verbeugen sich über ihren Laserschwertern die Richtung weisend. Hier, in den Bergen, jetzt also ein Lasersamurai im Nebel zwischen Zedern. Mit emsiger Verbeugung über sein Schwert weist er mir die Richtung um einen Bagger herum, der im Wald parkt. Schon nach zwei Wochen Japan wundert man sich über gar nichts mehr.
Summend schlendere ich am Bagger vorbei, ein Grinsen auf den Lippen, weiter hinab ins Tal. Stille. Und in der Stille summe ich. Alleine. Endlich. Ich reise nicht alleine, das wollte ich diesmal nicht. Manchmal wünsche ich mir, dass ich alleine reisen würde. Es liegt nicht an meiner Reisebegleiterin und nicht an ihrem zweijährigen Sohn. Ich mag die beiden sehr gerne. Der Kleine bringt mich zum Lachen, entdeckt die Welt völlig neu, und meine Begleiterin bewundere ich für ihre Art und wie sie mit ihrem Sohn umgeht (meistens zumindest). Es ist nicht immer einfach, in diesem Land, in dem es eine ganz eigene Ordnung gibt. Wir sind ein gutes Reisegespann. Doch manchmal ist es überhaupt schwierig mit Kind zu reisen, der Rhythmus ein anderer. Weniger Stille, weniger Zeit für mich, weniger Zeit in Bahnen, weniger Tempo, weniger weite Wanderungen. Und dann habe ich das Gefühl, an dem Punkt zurückzukehren, an dem ich erst anfing los zu gehen und Dinge hinter mir zu lassen. Heute früh sind meine beiden Begleiter abgereist, vorgereist zu der Familie, bei der wir auf ihrer Farm arbeiten und leben werden. Ich bleibe noch in Bessho Onsen in den Bergen, wo es so viele heiße Quellen gibt und ich noch in keiner einzigen baden war, weil die Japaner hässliche Betonbauten darum errichteten. Morgens laufe ich also einfach los, den Berg hinauf, wandere durch dichte Zedernwälder, süßlicher Duft, um dann Lasersamurais zu begegnen.
Irgendwann endet der Zedernwald und mit ihm der frische Zedernduft. An seine Stelle treten Reisfelder, Kakibäume mit den letzten orangefarbenen Früchten vor dem Winter, ein steiniges Flussbett gesäumt von Bambus. Und als ich aus dem Bambusdickicht wieder hervor krieche, strahlt die Sonne durch den Neben. Er lichtet sich, zeigt blauen Himmel, verfängt sich zwischen Bergen und schimmert milchig in Sonnenstrahlen. Eine orangefarbene Kakifrucht in der Hand, zwei Frauen im Kohlfeld hockend, ein Mann schiebt humpelnd einen Rollstuhl über Geröll bis zur Strasse, setzt sich dann in den Rollstuhl und fährt mit Kutschengeklapper die Strasse hinab. Später treffe ich ihn weiter unten in einem Schuppen voller Werkzeug an der Strasse. Er wuchtet auf Holzbalken stehend Kisten hin und her. Der Rollstuhl steht vor der Schuppenschiebetür, die Schiebetür steht offen, der Mann ist alt und bucklig. Er lächelt und verbeugt sich.
An einem Zedernhang führen steile Treppen durch ein Tor zu einem Schrein. Davor eine heiße dampfende Wasserquelle, die nach Schwefeldioxid, nach faulen Eiern duftet. Zwei Bambuskellen liegen bereit, damit der durstige Wanderer zwei große Schlücke faulige Eier trinkt, zur Reinigung. Ich verzichte, setze mich in geruchslose Entfernung, einer bemoosten Buddhastatue zu Füßen und greife in meiner Gürteltasche nach einer Volvic-Plastikflasche gefüllt mit grünem Jasmintee. Durchatmen, die Sonnenstrahlen fallen durch Zedernäste, malen Streifen in die Luft und Punkte auf den weichen Waldboden. Zu Füßen des Schreins steigen neue Nebelschwaden vom Boden auf, Regen verdampft auf Reisfeldern. Die Stimmung wie in einem Film von Akira Kurosawa- Dreams, Träume… so unerreichbar. Am Fluss dreht sich ein Wasserrad. Ein Dorf weiter wimmelt es von Apfelplantagen. Da Japaner meistens klein sind und vielleicht keine Leitern haben, sind auch ihre Apfelbäume klein. Zu recht gestutzt braucht ein Baum eine Fläche von circa 10 qm. Der Stamm ist 1,5 m kurz, die Baumkrone flach und breit wie ein See aus Ästen. Als hätte jemand Apfelbäume mit einem Hammer in die Erde geschlagen und die breit gehauenen Äste mit Pfeilern und netzen abgestützt. Nur noch wenige Äpfel hängen zu dieser kalten Jahreszeit an den deformierten Bäumen. Im Spätsommer, wenn Apfelzeit ist, müssen die merkwürdigen Gewächse noch seltsamer aussehen, denn die Äpfel hier sind riesengroß – riesengroß, saftig und rot. Dann baumeln riesige Äpfel am zu kleinen zu breiten Baum. Moderne Nutzenmaximierung.
Schulkinder kommen mir entgegen, verbeugen sich, tuscheln. Sie tragen dunkelblaue Uniformen und rote quadratische Ledertornister. An den Jacken glänzen große, goldene Knöpfe und aus den Jackentaschen baumeln Mangafiguren. Die japanischen Komikfiguren hängen an den Mobiltelefonen der Kinder. Die Schulmädchen haben graue Faltenröcke an – sehr kurz -, blaue Jacken mit Goldknöpfen, schwarze Zöpfe und Kniestrümpfe. In den Städten tragen manche dunkle Kniestrümpfe mit gestickten weißen Playboyhäschen darauf. Die Knie zwischen Faltenrock und Strumpf sind voller blauer Flecke und Blutergüsse- in der Stadt und auf dem Land. Automaten, an denen man gebrauchte Schulmädchenslips kaufen kann, habe ich noch nicht gesehen. Aber es muss sie geben, denn alle Touristen wissen von ihnen noch bevor sie nach Japan reisen- Engländer, Australier, Kanadier, Franzosen, Deutsche… Japaner habe ich mich noch nicht getraut zu fragen. Ist wohl nicht die feine Art nach dem Gemüsekauf nach gebrauchten Slips zu fragen. Die Schuljungen spielen meistens Baseball. Ihre Uniformen bleiben dabei natürlich sauber und ordentlich gebügelt, die Goldknöpfe blinken groß in der Sonne. Zwischen Gewächshäusern und eingeschlagenen Apfelbäumen sitzend bekomme ich einen Baseball an den Kopf, werfe ihn zurück. Die Sonne nähert sich den diesigen Bergen, färbt die Schnee bedeckten Gipfel in der Ferne orange, dann lila, bald wird sie untergehen. Dieselbe Kulisse in andere Farbtöne getaucht. Ich mache mich auf den Rückweg, da ich die Kulisse nicht in völlige Dunkelheit getaucht sehen will. Auf dem Weg zur Jugendherberge habe ich die Hoffnung, die Herbergsmutter überreden zu können, heute Abend ihre Küche nutzen zu dürfen. Nach langer Zeit mit eingeschweißtem Fertigreis als Hauptnahrungsmittel möchte ich gerne mal wieder ein richtig echtes Mahl kochen und essen. Leider geizen die Japanerinnen Ausländern gegenüber meist mit der Mitbenutzungsgenehmigung ihrer Küchen. Sie trauen uns einfach nicht zu, einen Gasherd mit Wok ordnungsgemäß zu betätigen. Auch Erklärungen, dass wir doch beides auch in Deutschland haben und nutzen, führen nicht zum gewünschten Ergebnis. Vorurteile sind hartnäckig. Vielleicht eine ähnliche Vorstellung von nicht-kochen-könnenden-Ausländern in Japan so wie von Schulmädchenslips-vom-Auto- maten-kaufenden-Japanern im Ausland.
Die Versinnbildlichung Deutschlands in Japan: Schloss Neuschwanstein- das kennt man aus Disneyland, denn das deutsche Schloss ist das Modell für Mickeys Schloss. Und wer in solchen Schlössern lebt, der kann natürlich nicht kochen können, denn er hat lauter kleine Japaner, die ihm die feistesten Speisen bereiten. Und die Japaner bereiten diese natürlich gerne, weil sie so einen Blick auf Mickeys Gemächer werfen können.
(Text und Bilder von Carina Pesch)