Piek Sieben

Sie saß in der Sonne. Über ihr ragte eine Kirche orange in den Himmel. Unter ihr fielen grau die Stufen. Ein Platz erstreckte sich vor ihr, nicht groß und nicht klein. Das Muster des Kopfsteinpflasters hatte sie beschäftigt, sowie die Tauben, die unbeirrt ihre Runden über das Muster des Kopfsteinpflasters zogen. Jeden Tag. Jedes Jahr. Sie war oft hier, saß einfach nur da. Sie beobachtete, sah wie Menschen kamen und gingen, wie sie lachten, lallten und gedankenverloren lächelten. Manche von ihnen kannte sie. Manche waren oft hier. Sie wusste, wann sie lachen, lallen oder gedankenverloren lächeln würden und konnte sich bereits im Voraus darauf einstellen. Sie trank einen großen Schluck Wasser. Die Kohlensäure kitzelte ihren Hals. Sie spürte das Kribbeln bis in ihren Bauch hinab, spürte jede Bewegung des Wassers. Sie hatte an diesem Morgen noch nichts gegessen, und so fühlte sie wie Wasser und Magensäure sich grüßten. Sie hatte keinen Hunger, dennoch biss sie in das trockene Brötchen, das sie eigentlich für die gierigen Tauben vorgesehen hatte. ‚Man konnte eben nicht alles vorhersehen’, dachte sie und genoss den bröseligen Teig. Tauben kamen und verschlangen die Krümel, die zu Boden fielen. ‚Dinge änderten sich manchmal plötzlich.’ Ihr fiel auf, dass der Mann, der eben noch zeichnend neben ihr auf den grauen Stufen gesessen hatte, aufgestanden und gegangen sein musste. Er war nicht mehr da. Wahrscheinlich war er langsam über das graue Steinmuster geschritten und erst schneller gegangen, als er den Platz schon längst verlassen hatte. So gingen die Menschen über einen Platz, denn ihnen war bewusst, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Er war nicht mehr da. Da hatte sie es: Dinge änderten sich manchmal plötzlich. Ein Hund kratzte über das Pflastergestein des Platzes auf der Jagd nach einem roten Gummiball, bellte dreimal und verschwand. Ein altes Ehepaar schob gemeinsam einen Buggy ohne Kind vorüber. Eine Frau rauchte genüsslich im Rollstuhl. Seit Stunden hatte sie sich nicht verändert, saß da und rauchte. Das war der äußerliche Eindruck. Doch die Frau auf der grauen Treppe unter der orangefarbenen Kirche war sich sicher, dass sich innerlich eine Menge in der rauchenden Rollstuhlfrau getan hatte. Ihr waren wahrscheinlich eine Menge unterschiedlicher Menschen durch den Kopf gegangen, während diese äußerlich nur über den grauen Platz gehuscht waren. Innerlich taten sich immer gerade dann besonders viele Dinge, wenn äußerlich alles gleich zu bleiben schien. Die Rollstuhlfrau rollte vom Platz und aus den Gedanken der Frau auf der grauen Treppe. Die Menschen kamen und gingen, doch immer blieb die graue Treppenfrau am längsten. Jeden Tag. Jedes Jahr. Ein Cafe hatte nun seine Stühle und Tische hinaus in die pralle Mittagssonne gestellt. Es waren viele unterschiedliche Menschen gekommen und gegangen. Sie waren flüchtig gekommen und gegangen, ohne die grauen Steine des Platzes recht zu berühren, ohne das Muster der Steine zu bemerken. Auch die Tauben fielen ihnen wahrscheinlich nicht auf. Es gab graue Tauben, braune, weiße, gefleckte, welche die grünlich schimmerten… doch das schien nur die Treppenfrau zu bemerken. Sie bemerkte jede Bewegung, jede Änderung des Platzes. So saß sie da, gedankenverloren. Ihre Gedanken folgten den flüchtigen Menschen bis diese den grauen Platz verließen und vergaßen sie dann. Auch ihre Gedanken waren nur flüchtig, stellte die Frau enttäuscht fest. Sie vermochten nicht den Augenblick festzuhalten. Sie waren augenblicklich wieder verschwunden. Sie verschwanden in der Vergangenheit und wurden vergessen. Nur ein Gedanke war über die Tage und Jahre geblieben. Er war nicht augenblicklich wieder verschwunden. Es war der Gedanke an einen Mann. Er war nie über den grauen Platz gehuscht und hatte daher beim Verlassen des Platzes auch nicht ihre Gedanken verlassen. Der Gedanke an ihn war da. Jeden Tag. Jedes Jahr. Und wenn sie so auf der grauen Treppe unter der orangefarbenen Kirche saß, ihre Gedanken den flüchtigen Gestalten eine Weile lang folgten, war sie doch immer in Gedanken bei ihm. Sie schien zu warten. Jeden Tag. Jedes Jahr. Doch er war nie gekommen, noch gegangen. Es war lange her, dass der Gedanke an ihn sich in ihr geformt hatte. Doch dieser Augenblick war ihr seitdem gegenwärtiger als die Gegenwart. Er war gegenwärtiger als jeder Augenblick, in dem Menschen flüchtig über den grauen Platz huschten. Mehr gab es im Leben der grauen Treppenfrau schon lange nicht mehr. Es gab die grauen Stufen, die gegen Ende eines jeden Tages ihren Hintern unangenehm schmerzen ließen. Es gab das graue Muster des Kopfsteinpflasters vor ihr. Und es gab die grauen Gestalten, die flüchtig an ihr vorbei huschten. Manchmal erhaschte die Frau einen kurzen farbigen Einblick in das Leben der grauen Gestalten, aber mehr nicht. Mehr wollte sie auch nicht. Sie hätte auf die Gestalten zugehen können, ein wenig Licht in ihre Grauheit bringen können. Doch der Gedanke war ihr nie gekommen und das wollte sie auch nicht. Es sollte grau bleiben. Ja, es gab auch noch die orangefarbene Kirche über ihr. Doch die war eben über ihr und aufblicken, wollte sie schon lange nicht mehr. Ihr war bewusst, dass irgendwo weit über ihr eine orangefarbene Kirche in den blauen Himmel ragte, und das genügte ihr. Ihr Leben war grau. Sie wollte es so. Es war nicht immer so gewesen. Sie war jung gewesen. Ihre Tage waren farbig gewesen. Sie hatte sie an farbigen Orten und nicht auf grauen Stufen verbracht. Sie war viel ausgegangen, hatte gefeiert, gelacht, geliebt. Doch nun war sie hier. Auf den grauen Stufen neben ihr saßen nun zwei junge Frauen mit Baby. Sie waren blass, fand die Treppenfrau. Eine alte Dame mit kurzen grauen Haaren und einem grauen Mantel rief schon von weit her: „Ach, ist das aber süß. Nein, ist das aber süß.“ Sie wiederholte diese Worte in selber oder ähnlicher Reihenfolge einige Minuten, bis sie an den Treppen vor den jungen Frauen und dem Baby stehen blieb. Sie holte tief Luft, schnappte nach Atem. Dann fing sie wieder an: „Ach, ist das aber ein Süßes. Wie alt isses denn?“ „Vier Monate“, antwortete die junge Frau mit den roten Haaren und dem blassen Gesicht sichtlich stolz. „Na, das passt ja in meinen Einkaufskarren, so klein ist das. Komm, komm in meinen Karren.“ Die alte Dame zerrte einen grauen Einkaufskarren hinter sich her. „Bist du aber süß“, fuhr sie fort und trat noch näher auf die blassen Frauen zu. „Junge oder Mädchen?“ fragte sie ungeduldig. Es war ein Mädchen. „Also, ich habe ja einen Jungen. Sind süß, wenn die so klein sind, nicht? Aber glauben se mal, wenn die groß werden…“ Die Dame legte eine Pause ein. „Wenn die groß werden, dann wird es schlimm. Erst stellen sie Fragen, dann fassen sie alles an und später hören sie nicht mehr. Meiner ist jetzt groß. Von dem will ich nichts mehr wissen. Der sitzt ja auch im Knast. Tot ist der für mich, tot.“ Sie hob drohend den Finger gegen Himmel. Entsetztes Schweigen auf den grauen Stufen. „Ich freu mich ja immer, wenn ich gesunde Babys sehe“, fuhr die alte Dame fort. „Ich hab da schon Dinge gesehen. Ein Froschskopf. Ja, so was gibt’s. Ein Kind ohne Schädeldecke geboren. Ham se der Mutter gar nicht erst gezeigt. So war das damals in den Sechzigern. Einfach auf den Kompost geschmissen. Zack.“ Nach einer kleinen Pause fügte die Dame hinzu: „War sowieso ein uneheliches Kind.“ Verachtung lag in ihrer Stimme. Die blasse Frau mit dem Baby war bestimmt auch unverheiratet, dachte die Treppenfrau. Ängstlich umklammerte sie mittlerweile ihr kleines Baby und blickte die graue Dame schüchtern bis verständnislos an. „Na“, plapperte diese weiter. „Kommt das kleine Fräulein nun in meinen Einkaufskarren. Ein Bisschen dick ist es ja schon. Ich setz es in meinen Kühlschrank daheim, dann wird’s schön schlank. Na, komm Fräulein…“

Fräulein… So hatte er sie immer genannt. Es hatte wohl nie jemandem in ihrem Leben gegeben, der diesem Wort so viel Würde gegeben hatte. Eigentlich mochte die Treppenfrau das Wort nicht. Sie verabscheute es. Immer hatte sie lauthals protestiert, wenn meist ältere Menschen sie mit „Fräulein“ angesprochen hatten: „Hey Herrlein, bin kein Fräulein“, hatte sie geschimpft. Oder sie hatte angefangen zu singen: „Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Hat vor lauter Purpur ein Mäntlein um… “ Doch kein einziges mal hatte sie sich empört, wenn seine Lippen dieses Wort formten. Sie hatte begonnen, es zu lieben, hatte die Würde des Wortes geliebt, die er ihm gab. ‚Oder ob sie dem Wort selber die fehlende Würde zurückgegeben hatte?’ überlegte sie.

Die alte, graue Dame ratterte mit ihrem grauen Einkaufskarren über den grauen Platz davon. ‚Endlich’, dachte die Treppenfrau. „Endlich“ stand auch den beiden jungen Frauen mit dem Baby ins Gesicht geschrieben. Die blasse Mutter entspannte sich wieder und lockerte den Griff, mit dem sie ihr Kind hatte schützen wollen.

Da war er wieder, der Gedanke an ihn, der Gedanke an den Mann, den sie sich nicht zu lieben getraut hatte: Sie war jung gewesen, war ihm schon einige male begegnet. Sie hatte sich immer erfolgreich bemüht, das Gefühl, das sie in seiner Nähe spürte, zu ignorieren. Doch es war immer da gewesen, vom ersten Augenblick an. Es war ihr immer gelungen es zu ignorieren. Bis zu einem Augenblick, in dem sie ehrlicher zu sich selber war, als sie es jemals sein wollte. Sie hatte getrunken. Er hatte getrunken. Sie hatten gemeinsam gefeiert. Nun lagen sie gemeinsam im Bett. Sie küssten sich nicht, nicht auf den Mund. Sie lagen da und betrachteten einander. Er fuhr mit seiner Hand durch ihr blondes Haar, bis es ganz verzottelt aussah. Er berührte ihre Wange zärtlich, stupste ihre Nase. Wie oft war sie wegen ihrer Stupsnase gehänselt worden. In einer Zeitschrift hatte sie einmal gelesen, dass Menschen mit Stupsnasen keine Führungspositionen anvertraut würden. Man suche Menschen mit harten Zügen, vertrauenserweckend, stark. Sie war also nicht vertrauenserweckend, stark. Sie war dazu verurteilt gewesen, erfolglos zu bleiben, und das alles nur wegen ihrer Stupsnase. Sie fand das ungerecht, doch die Zeitschrift hatte recht behalten. Hier saß sie nun auf grauen Stufen, arbeitslos, erfolglos. Sie glaubte, die Zeitschrift sei ihr im Wartesaal eines Arztes zwischen die Finger gekommen. Sie hatte aufgehört zu lesen und aufgehört zum Arzt zu gehen. Sie verspürte manchmal einen starken Juckreiz in der Schamgegend, doch das störte sie nicht weiter. Sie ging nicht zum Arzt und lass auch keinen schlauen Artikel über Juckreiz in der Schamgegend. Es interessierte sie nicht. Es interessierte sie noch weniger als die flüchtigen Gestalten auf dem grauen Platz. Sie war erfolglos geblieben wegen ihrer Stupsnase, oder weil sie einen Artikel über Stupsnasekarrieren gelesen hatte. Sie war arbeitslos, einsam und saß mit einem Juckreiz in der Schamgegend auf einem grauen Platz zwischen grauen Gestalten. Sie wollte gerade anfangen sich zu bemitleiden, als der Gedanke an ihn sie davon abhielt.

Eine weitere graue Gestalt in Form einer alten Dame schritt über den Platz. Ihr Schirm diente als Gehstock. ‚Warum sollte jemand bei dem schönen Wetter einen Schirm bei sich tragen’, fragte sich die Treppenfrau. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet. Doch die alte Dame war zu eitel für einen Krückstock. Ein Schirm war eleganter. Man trug eben keine Krücke mit sich herum, auf die Krüppel angewiesen waren, sondern einen Schirm, den jeder brauchte, wenn es einmal regnete. ‚Wenn es einmal regnete…’, dachte die Treppenfrau. Aber es regnete nicht. Die Sonne strahlte. ‚Immer, wenn man einen Schirm bei sich hat, scheint die Sonne. Hat man keinen dabei, regnet es’, erinnerte sich die Treppenfrau. So war das Leben. Eine andere alte Frau hinkte gebrechlich über den grauen Platz. Sie stützte sich schwer auf eine hellgraue Krücke. Langsam quälte sie sich vorwärts, beinahe schien sie zu kriechen. Alles schien ihr schwer zu fallen. Sie kroch auf drei Beinen über den grauen Platz. ‚Deshalb ging die Dame vorhin auf ihren Schirm gestützt’, dachte die Treppenfrau zufrieden über diese Erkenntnis. ‚Sie wollte sich einfach elegant unterschieden wissen.’

Doch die Treppenfrau beschloss nun wieder über innere Angelegenheiten (wie sie es nannte) nachzudenken. Sie wollte an ihn denken, wollte die vergangenen Küsse zurückholen. Sie dachte an den Augenblick, in dem alles begann. Es war in einem Augenblick nach dem Feiern. Ruhe war eingekehrt. Sie hatten da gesessen, hatten aufgehört zu reden und lagen nun auf dem Bett, das im Raum stand. Es war sein Bett. Es war demnach seine Wohnung. Sie war in seiner Wohnung. Wie war sie hier her gelangt? Nie hätte sie sich erträumt, einmal so weit zu gehen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie sehr möge. Sie hatte gesagt: „Ich dich auch, verdammt ich dich auch.“ Nun lagen sie da, beinahe reglos. Er hatte ihr Gesicht liebkost, sie hatte es genossen. Viele male wollten ihre Lippen die Worte sprechen: „Lass uns doch einfach Freunde sein.“ Doch viele male hatte sie diese Worte eingeschlossen, indem sie ihre Lippen fest aufeinander presste. Wahrscheinlich hatte er gedacht, sie beiße sich vor Erregung auf die Lippen, wie es die schönen Frauen im Fernsehen tuen. Er hatte sich geirrt. Sie wusste, dass sie einen schrecklichen Fehler beging, doch alles, was sie denken konnte war: ‚Hoffentlich wird es ein wunderschöner Fehler.’ Es wurde ein wunderschöner Fehler. Seine Hand fuhr anfangs noch langsam von ihrem Gesicht zu ihrem Bauch. Langsam, zögerlich. Die Hand fand gewand ihren Weg unter die rote Bluse, die die heute graue Treppenfrau damals trug. Seine Lippen tasteten ihren Hals ab. Plötzlich war der Knopf ihrer Hose auf, und sie glitt geschmeidig über die nackte Haut ihrer Beine auf den Boden. Dinge änderten sich manchmal plötzlich. Auch seine Hose lag auf dem Boden, und sie konnte sich nicht daran erinnern, ob sie ihn ausgezogen, oder ob er es selber getan hatte. Es spielte keine Rolle. Sie lagen nun nah, nackt beieinander. Ihre Hände berührten die Körper wie heiße Kohlen. Rasend, brennend, rastlos. Alles bewegte sich, und doch schien die Welt einen Moment lang still zu stehen. ‚Verdammte Welt, bitte dreh dich nicht weiter’, wollte die Frau schreien, doch sie war zu erschöpft. Vorerst gesättigt, ermüdet ließ sie sich neben ihn fallen und blieb reglos liegen. Die Welt drehte sich rasend schnell weiter. Sie lagen da. Er lag da, und sie lag da. Sie blickten einander nicht mehr an. Sie starrten an die Decke des Raumes. Die Welt drehte sich, beide konnten es spüren. Sie spürten wie die Erddrehung schon bald einen von beiden fort reißen würde. „Wirst du morgen noch an mich denken?“ hatte sie gefragt. „Ich werde versuchen, es nicht zu tun“, hatte er gesagt. Sie stand auf, zog sich an und setzte sich noch einen Moment lang zu ihm auf das Bett. „Wer bist du?“ fragte sie. Sie würde es nie herausfinden, wusste sie. Sie blickte in seine braunen Augen und verlor sich einen Augenblick lang. Was lag nur hinter diesen Augen? Sie spürte ein letztes mal, wie er sie mit einem sanften Ruck zu sich heran zog, spürte ein letztes mal seine kühle Wärme, seine distanzierte Nähe. Sie liebte diesen letzten sanften Ruck. Dann stand sie auf, setzte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen und ging. Als sie gerade die Türe zwischen ihnen schließen wollte, hörte sie ihn flüstern: „Vielleicht sehen wir uns in einem anderen Leben wieder.“ „Vielleicht unter anderen Umständen“, hörte sie sich selber flüstern. Die Tür schlug leise zwischen ihnen zu. Niemand hörte es. In ihren Ohren klang es noch lange wie Lärm. Sie trat hinaus auf die Straße. Die Sonne schien, doch sie wünschte sich Regen. Noch lächelte sie. Sie fühlte sich glücklich. Sie blickte zu Boden. Vor ihren Füßen lag eine Spielkarte. Sie hob sie auf. Es war eine Piek Sieben. ‚Pech im Spiel, Glück in der Liebe’, sagte ihr Kopf. Die folgenden Tage ließen ihr Glück verblassen. Sie sehnte sich nach mehr, sehnte die Vergangenheit zurück, diesen einen kleinen Augenblick. „Was gibt man nicht alles für diesen Augenblick voller Glückseeligkeit?“ hatte er gesagt. Er hatte recht gehabt. Von diesem einen kleinen Augenblick an, hatte alles andere plötzlich an Farbe verloren. Die Welt war grau geworden. Nun saß sie auf grauen Stufen auf einem grauen Platz zwischen grauen Gestalten und Tauben. Sie war die graue Treppenfrau geworden. Sie bedauerte es nicht. Erfolgreich wäre sie ohnehin nie geworden, denn sie hatte eine Stupsnase und außerdem: Was gab man nicht alles für diesen winzigen Augenblick voller Glückseeligkeit?

Ein Mann- ja, man konnte ohne schlechtes Gewissen „ein Penner“ sagen- schwankte nun über den grauen Platz. Seine Jeans wies Spuren der letzten Nacht auf dem erdigen Boden eines Gebüschs auf. Sein Hemd war zerrissen. Seine Augen waren zu einem seltsamen Schielen nach oben gedreht. Seine Hände zitterten, waren gelb vor lauter Nikotin. Er öffnete den Mund, als er vor der grauen Treppenfrau angekommen war, doch es wollte kein Ton entstehen. Er versuchte es ein zweites mal: „Hhhhahaben siiie vielllleichtt Geld ffür eiinen Kakafffee ffür michh?“ Die Treppenfrau blickte in seine schielenden Augen: „Tut mir leid. Geld habe ich leider auch nicht. Aber hier nehmen sie einen Schluck Wasser.“ Sie hielt ihm ihre Wasserflasche unter die Nase. Der Mann konnte die Flasche in seiner zitternden Hand kaum halten. Er schwankte stark in alle Richtungen, während die Frau ihm zusah. Dann begann er von einem Krieg zu reden. Er redete von irgend einem Krieg. Die Frau auf den grauen Stufen wusste schon lange nicht mehr, welche Kriege wo und wann stattfanden. Sie lass schließlich nicht mehr. Außerdem hatte sie sich irgendwann damit abgefunden, dass eben immer irgendwo ein Krieg herrschte. Und wenn die Menschheit es tatsächlich eines schönen Tages schaffen sollte, an keinem Ort dieser Welt Krieg zu führen, dann- so war sich die Treppenfrau sicher- gab es bestimmt an einem anderen Ort des Universums gerade Krieg. Wozu sollte sie sich also den Kopf zerbrechen? Sie hatte sich eben an einen ständigen Kriegszustand gewöhnt. Nein, miterlebt hatte sie keinen einzigen, aber wozu sollte sie denn wissen, wohin der ständige Kriegszustand nun schon wieder gezogen war? Was machte es für einen Unterschied, ob sie es wusste oder nicht? Doch der Mann sagte es ihr dennoch: „Der Irak, der Irak“, wimmerte er. ‚Wo um alles in der Welt war der Irak?’ fragte sich die Frau. Irak lag nicht auf ihrem grauen Platz, sonst hätte sie es gekannt. Sie kannte alles auf ihrem grauen Platz. Der schwankende Mann vor ihr schien auch nicht zu wissen, wo Irak war, doch er wusste, dass der Krieg von Verrückten geführt wurde: „Mmich nnennen siie ddurchdurchgeknallllt, ddoch ich fführe keinen keinen Kriiieeg. Diie sind ver-rüückt, aber diie hahaben jaa diicke Autos.“ ‚Dicke Autos und saubere Kleidung’, dachte die Frau. Nach einer Weile, die ihr immer länger schien, schwankte der Mann mit ihrer Wasserflasche weiter, verließ schließlich den grauen Platz und ließ die Frau alleine auf den grauen Stufen zurück. Sie war interessiert daran gewesen, was der Mann zu sagen hatte und war doch froh als er sie wieder mit ihren Gedanken alleine ließ.

Sie kehrte zurück, kehrte zurück an ihren Lieblingsort, kehrte in Gedanken zurück zu ihm. Wer war er nur, dass er ihr Leben der Art aus den Fugen heben konnte? Sie hatte ihn nie gekannt, nie entdeckt, was hinter seiner zugegebener Maßen schönen Fassade lag. Seine Augen ließen sie nicht mehr los. ‚Braun, braun…’ Das Wort ging ihr immer wieder durch den Kopf, ohne dass sie seine Bedeutung verstand.

Einmal, es war schon lange her, hatte ein Mann ein Gespräch mit ihr angefangen, erinnerte sich die Treppenfrau. Es muss gegen Anfang ihrer Stupsnasen-Treppenkarriere gewesen sein, denn zu einem späteren Zeitpunkt hätten normale Menschen sie nicht mehr angesprochen. Wenn sie es sich recht überlegte, war dieser Mann nicht normal gewesen. Er war aus Afrika gekommen, suchte ganz offensichtlich einen Gesprächspartner. Alfred hieß er, war der jüngste von acht Kindern. Ihm gefiel Deutschland nicht. Es war ihm zu unfreundlich. Er war froh die Treppenfrau zu treffen, die mit ihm redete und lachte. Damals hatte sie noch mit Menschen geredet und gelacht. Er war etwas zu froh über ihre Begegnung gewesen, hatte sie gefunden. Eine Stunde lang hatte er ihr etwas über Schicksal, Gott und die Ehe erzählt. Er war fest davon überzeugt, dass Gott ihn an diesem Tag aus dem Haus schickte, um sie auf den Treppen zu treffen und sofort zu heiraten. Die Treppenfrau fragte sich, was geschehen wäre, wenn sie aufgestanden wäre und ihn geheiratet hätte. Ein bisschen verrückt war er gewesen, aber er hatte ihr sofort versprochen, dass er sie glücklich machen werde. Das hatte kein anderer Mann in ihrem Leben jemals versprochen. Aber der afrikanische Mann hatte ja nicht wissen können, dass sie sich vorgenommen hatte den Rest ihres Lebens auf den grauen Stufen zu verbringen und auf einen Mann zu warten, den sie sich nicht getraut hatte zu lieben, und den sie auch gar nicht kannte. Was wäre geschehen, wenn…

Eine Gestalt stand der Treppenfrau gegenüber. Sie betrat den Platz nicht. Sie ging auf und ab, ohne nur einen Fuß auf das Muster des Kopfsteinpflasters zu setzten. Die Blicke der Frau wurden magisch von dieser Gestalt angezogen. Wie ein Schatten der Vergangenheit stand die Gestalt da. Ob sie die graue Frau auf den Stufen bemerkte? Nach vielen Tagen, vielen Jahren stand die Frau auf. Er war es. Ihre Glieder schmerzten. Sie spürte ihre Beine kaum noch. Unsicher tastete sie mit den Füßen nach den grauen Stufen. Langsam ging sie Stufe für Stufe auf den grauen Platz hinunter. Sie schritt über das Muster des Kopfsteinpflasters, spürte die Abendsonne auf ihrem Gesicht. Warm fühlte sie sich an. Seit Jahren bemerkte sie das erste mal wie warm Sonne sein konnte und wie sich ihr Körper anfühlte, wie sich Bewegungen anfühlten. Sie hatte viel Zeit damit verbracht, jede Bewegung ihrer Umgebung zu beobachten, doch ihre eigenen Bewegungen waren mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Jetzt kamen sie ihr mit voller Kraft ins Gedächtnis zurück. Schön fühlten sich eigene Bewegungen an. Leben durchströmte sie. Immer schneller und mit sicheren Schritten lief sie nun über den Platz. Als sie an der Straße ankam, die den grauen Stufen gegenüber lag, und dem Schatten der Vergangenheit auf die Schulter tippen wollte, erschrak sie. ‚Würde er sie wieder erkennen? So wie sie mittlerweile aussah.’ Sie beschloss, das Risiko einzugehen. Zu lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Sie hob ihren rechten Arm, doch als sie gerade meinte, den Schatten zu berühren, tippte sie ins Leere. Leere durchfloss sie wie ein kalter Gebirgsbach. Enttäuscht hing ihr Kopf zwischen den leblosen Schultern. Alles baumelte erschöpft an ihr herunter. Wie konnte das sein? „Du bist nur eine verrückte alte Frau“, hörte sie ihren Mund sprechen. Sie spürte wie ihr Körper alles daran setzte, sie umzudrehen und wieder auf die grauen Stufen zurück gehen zu lassen. Sie weigerte sich. Sie wollte sich um keinen Preis von dieser Stelle bewegen. Reglos, niedergeschlagen wollte sie im Selbstmitleid verweilen. „Suchst du wen?“ rief es über die Straße. Die Frau hob erschrocken den Kopf. Jemand hatte mit ihr gesprochen. Ganz eindeutig war sie gemeint gewesen. Sie drehte sich in die Richtung der Stimme. Ein Mann, ungefähr in ihrem Alter, saß auf grauen Stufen. Es waren die Stufen eines alten Wohnhauses. Verwundert fragte die Frau: „Wie lange sitzt du schon da?“ „Seit Tagen. Seit Jahren“, sagte der Mann. Er war ihr nie aufgefallen, saß er doch jenseits ihres grauen Platzes. „Und was machst du hier?“ wollte die Frau wissen. „Warten“, sagte der Mann. „Auf wen?“ fragte die Frau. Der Mann stand auf. Seine Glieder schmerzten. Er spürte seine Beine kaum noch. Unsicher tastete er sich die grauen Stufen hinab. Sie reichte ihm ihre Hand, um ihn zu stützen. „Ich warte auf dich“, sagte der Mann. Sie blickten einander tief in die Augen. Hand in Hand gingen beide glücklich die Straße entlang der Abendsonne entgegen. Sie verließen den grauen Platz und kamen nie wieder dorthin zurück. Die graue Treppenfrau war nun keine Treppenfrau mehr. Sie war eine farbige, erfolgreiche Frau geworden, trotz Stupsnase. Ganz gewöhnlich.

Von weit her fragte ein kleiner Junge seine Mutter: „Ist das wirklich wahr, Mama? Ist es so gewesen?“ „Nein, mein Sohn, natürlich nicht. Es ist nur eine Geschichte wie sie in deinem Schulbuch steht“, antwortete die Mutter.

(Text von Carina Pesch, Bild von www.sxc.hu)