Sie ist eine kleine Person mit weißem Haar. Das Bett, das sie seit einigen Jahren bewohnt, füllt sie noch nicht einmal bis zur Hälfte. Ihr Haar war nicht immer weiß. Es war einmal schwarz wie Ebenholz und ihre Haut war weiß wie Schnee. Heute ist es ihr Haar, das dem Schnee so sehr ähnelt. Viele Falten ziehen sich durch das winzige Gesicht und werfen lange Schatten. Ihre Haut scheint heute eher grau denn weiß. Dennoch gleicht sie einem Schwan. Ihr Hals ist lang, die Lippen nach wie vor von kräftigem Rot. Ob sie manchmal nachhilft, verrät sie nicht. Sie verrät nicht viel, diese kleine Person.
Sie liegt da und schweigt. Ihr großes Bett, in dem sie so verloren wirkt, steht unter dem Fenster. Der Arzt sagt, es tue ihr gut, den Himmel zu sehen. Doch die Vorhänge sind meist verschlossen. Die Schwester sagt, die Wintersonne würde die kleine Frau blenden. Die kleine Frau sagt nicht viel dazu. Sie liegt da und schweigt. Wo ihre Blicke hin wandern, wo ihre Gedanken lässt sich nicht sagen. Vielleicht denkt sie nicht mehr, vielleicht sieht sie nicht mehr.
Ihre gräuliche Haut liegt in Falten und wirkt dennoch gespannt. Über dem Weiß der Knochen dehnt sie sich. Man kann die Struktur des Gewebes wie einen vom Meer verwaschenen Fußabdruck im Sand erkennen. Beinah durchsichtig bedeckt die blasse Haut blass blaue Adern, die sich wie feines Binsengeflecht ausbreiten. Ein klein wenig treten sie hervor, ein klein wenig pochen sie. Besonders um die Schläfen herum kann man den Lebenssaft schleichen sehen, wenn man die feine Haut durchschaut.
Die Augen hält sie halb geschlossen. Sie hängen tief wie in einem sehr schlanken Vollmond. Die Augenhöhlen scheinen ihre Augäpfel verschlucken zu wollen, eingesunken schimmern die Lider. Und auch hier ranken blasse Adern in hauchdünnen Linien.
Die Glieder liegen still. Wie Birkenstämmchen stecken sie im weißen Körper. Die Brust eingesunken als wolle sie sich verkriechen. Dem Erbauer dieser zart abstrakten Schneefrau ist wohl der Schnee ausgegangen, denn so eine dünne Schneefrau hat die Welt noch nicht gesehen. Ein filigranes Werk, nicht recht Kunst, doch kurz vor seiner Vollendung. Der Körper ist kalt.
Das Zimmer, in dem das Bett der kleinen Person steht, ist schlicht gehalten. Altweiße Wände, grau melierte Fliesen, ein kleiner Nachttisch mit einer grauen Tür. Schläuche führen aus dieser Tür und münden in die kleine Schneefrau. Einer in eine blass blaue Ader am Arm, die anderen verschwinden unter der weißen Bettdecke, welche die kleine Frau zu erdrücken droht. Hinter der grauen Tür hängen drei Beutel: Einer mit Sauerstoff, einer mit Urin, einer mit Kot. Manchmal kommt eine Schwester füllt den ersten, entleert letztere.
Auf dem kleinen Nachttisch stehen heute Blumen, bunte Blumen. Sie wirken wie Farbflecken in einer klinisch sauberen Umgebung. In einem der Sträuße prahlt eine goldene 104 aus Aluminium. Sie hängt in einem verzierten, goldenen Rahmen, reflektiert das von der weißen, löchrigen Decke fallende, künstliche Licht.
Ansonsten ist der Raum leer, künstlich hell und leer. „Ich sehe das Licht am Ende des Tunnels“ scheint er sagen zu wollen. Doch er bleibt stumm.
„Von wem kommen die Sträuße?“ fragt eine Stimme.
Die Schwester zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf und verlässt den Raum. Niemand war hier, niemand wird kommen, der Schneefrau zu gratulieren. Sie hat es weit geschafft, diese kleine Person, die in den Kissen zu versinken droht. Die Sträuße kamen mit der Post, per Lieferung, lagen am Morgen bei den Zeitungen oder wurden von Botenjungen gebracht, die nach Übergabe schleunigst verschwanden und das Weite suchten.
Sie betraten das kleine Haus am Waldes Rand nicht. Niemand betritt das kleine Haus am Waldes Rand freiwillig. Die Menschen haben Angst. Nur die Routine treibt einige müde Menschen tagein tagaus hierher. Wenn sie das Haus betreten, legen sie einen weißen Kittel an. Wenn sie es abends verlassen, streifen sie ihn ab und gehen gedankenlos nach Hause. Nur manche bleiben abends hier, und sie werden auch bald gehen.
Die Hand der kleinen Person zuckt unmerklich. Die Stimme, die eben noch nach der Herkunft der Sträuße fragte, entfernt sich, verabschiedet sich höflich von der Schwester im Flur und verlässt das kleine Haus am Waldes Rand selig pfeifend.
Zur selben Zeit regt sich nun auch der weiße, dünne Arm, dessen Hand zuvor unmerklich zuckte. Mit Anstrengung hebt er sich, schwebt dann leicht durch die Luft. Der rote Schnabel des weißen Schwanes holt tief Luft, zieht, saugt, knabbert die weiße Rinde des Birkenärmchens, saugt Stückchen für Stückchen und allmählich verschwindet das feine Glied im roten Schlund. Mit weniger Anstrengung schon hebt sich ein weiteres Ärmchen, schwebt, zittert und verkriecht sich ins Nichts. Mit Leichtigkeit nun erheben sich die Beine, tänzelnd. In den anmutigsten Verrenkungen fliegen sie den Armen gleich dem Schlund entgegen, ihn hinab in ewige Leere, lösen sich in Unendlichkeit auf.
Da ward der Vorhang geöffnet, weht Wind herbei und lässt die Wintersonne strahlen. Wärme durchdringt den kalten Leib, streift die schneeweiße Haut. Zart schmilzt der Schnee dahin, verflüchtigt sich, versinkt im weißen Laken und trocknet durch Winters Wärme. Da hängt bloß noch ein roter Schimmer in der Luft. Leise zählt er die Sträuße, verschlingt sie und ist fort. Stille kehrt ein.
„WIR BETRAUERN ZU TIEFST,
VERLUST UND SCHMERZ SIND UNSRE ZEUGEN,
DAS SCHEIDEN UNSRER UR-UR-GROßMA.
DAS LEBEN TRUG SIE WEIT UND LANG
DOCH NAHM SIE UNS ZUM 104. JAHRESTAG.
Mimi, Ralf, Peter, Susi gedenken ihr in Liebe“
steht eine Woche später in der Zeitung auf der Seite der Todesanzeigen. Es ist die größte Annonce auf der ganzen Seite.
(Text und Bild von Carina Pesch)