Knipsis und leider keine Polaroid

Ina Shi. Takayama sollte man auf keinen Fall bei seiner Japanreise missen, steht im Reiseführer, Lonely Planet, die Bibel der Backpacker. Takayama sei das Herz der Hauptinsel Japans Honshu.

Kann denn das Herz einer Insel so verschieden sein vom restlichen Körper? Vielleicht ist dann das Herz Honshus etwas konservativer, altmodischer, traditioneller als seine Nieren, Ohren und sein Verdauungstrakt. Welche Stadt ist die Niere Japans? Die Stadt, in der das Blut, der Lebenssaft Japans gereinigt wird? Da müßte man mal die japanische Umweltbehörde fragen… Der Verdauungstrakt Japans ist, da bin ich mir sicher, Tokio. Hier wird der Rest des Landes zu Brei verdaut. Auch Sodbrennen gibt es in Tokio. Dann nämlich, wenn die U-Bahnen so überfüllt sind, dass sie zu platzen drohen, der üble Saft aber anstandshalber runter geschluckt wird, das weiß behandschuhte Personal die saure Masse in die Wagen drückt, die Türen schließen selbsttätig.

Takayama ist also das Herz Honshus. Und das japanische Herz hängt an der Tradition. Auch wenn sein Geist manchmal so modern ist, dass es weh tut. Deshalb kommen auch all die modernen Japaner in Reisebussen ancouchiert, strömen durch die hübschen Holzgassen, lassen sich von altmodisch gekleideten Männern in Rikschas ziehen, verstopfen Souvenirshops, kaufen frisch gebrauten Sake und fahren am Nachmittag wieder.

Am Nachmittag wird es schön in Takayama. Für einen kurzen Moment taucht die Sonne die alten Häuser in rötliches Licht, wirft lange Schatten auf den Boden. Leere, alte Gassen mit altem Charme, aber jetzt nicht mehr sehr belebt, nachdem die Touristenströme gegangen sind. Vielleicht waren die Gassen auch traditionell leer, denn das japanische Volk scheint sich eher hinter geschlossenen Türen zu öffnen. Keine auf der Strasse hockenden Menschen beim Tratsch, wie im Rest von Asien. Japan kommt da eher deutsch daher.

Trotz Touristenströmen und geschlossenen Türen kann dieses Herz Japans begeistern und einen Einblick in Traditionen geben. Wenn man zum Beispiel in den Randbezirken spazieren geht, von Tempel zu Tempel und die alten Männer im Kimono vor ihren Papier beklebten Schiebetüren quatschen und sich voreinander verneigen. Wenn sie einem ein Lächeln und ein „Konichiwa“ (Guten Tag) schenken. Wenn man, wie ich, bei einem alten Shinto-Mönch im Tempel wohnt, da dieser zwei Zimmer vermietet. Wenn man da abends an der offenen Feuerstelle mit dem Teekessel darüber auf dem Boden sitzt, nachts friert, weil traditionelle Holzhäuser schlecht isoliert sind… dann kann man sich das alte Japan schon ein bisschen herbei träumen. Auch einen kurzen Blick in das normalerweise verschlossene Innere eines Shinto-Schreins konnte ich erhaschen. Jede Stunde schlägt der Mönch dreimal seine Klangschalen- ein Geräusch, das immer da zu sein scheint.

Hier drinnen erinnern nur die ersten Minuten im eigenen Zimmer durch süßlichen Geruch an das moderne Zeitalter. Der Japan-Erfahrene weiß, der Geruch kommt vom Kerosin, das in Heizlüftern verbrannt wird. Ja ja, mit Kerosin verpesten sie sich die Schlafräume, aber haben elektrisch beheizte Klobrillen.

Erwache ich morgens aus meiner Winterstarre, alle Ecken und Enden der vier Bettdecken luftdicht unter mich gestopft, dann ziehe ich mich in einem heillosen Durcheinander umständlich unter der Bettdecke an. Bloß keine Kälte am frühen Morgen. Der Atem schlägt sich in der kalten Luft nieder und die Nasenspitze ist eisig von der Nacht mit kleinen Eiszapfen.

Nachentfernung der Eiszapfen wird auf der anderen Straßenseite gegenüber gefrühstückt. Dort ist ein winziges Cafe, in das gerade drei winzige Tische und zehn Japaner passen. Hinter der Theke steht ein altes Ehepaar. Sie hat keine Nasenwurzel, dafür aber eine niedliche Stupsnase und kocht Kaffee. Er redet mit den Gästen, schenkt Tee und Wasser aus. Hinter den beiden türmt sich kitschiges, weiß geriffeltes Geschirr, rosa Eisbecher aus Glas, geschnitzte Holztiere in Glasvitrinen. Ab und zu öffnet sie die Vitrine, holt weiß geriffeltes Kitschgeschirr heraus, vergisst aber die Vitrine wieder vollständig zu schließen. Das macht er dann für sie im Nebensatz. Eine wuchtige goldene Uhr tickt an der Wand.

Jede Menge „Sumimasen“, was so viel wie Entschuldigung bedeutet, schwirrt durch die Luft. „Sumimasen“ wird ständig gesungen- wenn ein neuer Gast das Cafe betritt, wenn ihm sein Wasser gereicht wird, sein Ei hingeschoben, beim Bezahlen und beim Gehen. Mit den beiden Wörtern „Sumimasen“ und „Arigato“ kommt man schon ganz schön weit in Japan. Wenn man sie abwechselnd wiederholt, wird man wenigstens nicht für unhöflich gehalten.

Am besten gefällt mir aber in diesem Miniaturcafe, die laboratöse Art den Kaffee zu bereiten. Auf Bunsenbrennern, in Kolben mit Becherglasaufsatz brodelt extrastarker Kaffee wie ihn normalerweise nur Künstler, Workaholics und Japaner eben trinken. Dazu gibt es ein Riesentoast, halb Erdbeermarmelade, halb Ei. Wach und halb gesättigt geht es japanisch besungen und belächelt in den Tag.

Die Gegend um Takayama ist bekannt für ihre traditionelle Architektur- Holzhäuser mit spitzen, steilen Strohdächern, die besonders schnee- und windfest sind, bis zu 40 Jahre ohne Reparatur halten. Gassho werden diese Häuser genannt, was eigentlich die Gebetshaltung der Hände bezeichnet, aber in etwa der Dachform entspricht. Ich habe Fotos gesehen, wie die Dächer gedeckt werden. Das ganze Dorf steht dann mit Stroh in den Händen auf dem steilen Dach und stopft Lücken. Das muss eine Gaudi sein.

In Takayama gibt es ein idyllisches Freilichtmuseum mit einigen Gassho am Berg um einen See herum. Diese Häuser stammen aus dem 17. Jh. und sind in den 1960er Jahren hierher gerettet worden, weil ein ganzes Tal für einen Staudammbau geflutet wurde. Diese Museumsgassho sind zwar nicht mehr belebt, aber das ist ausnahmsweise gut so. So kann man ungeniert jeden Winkel erkunden, von der Feuerstelle bis zum Dachgiebel.

In einem Gassho schlendere ich alleine durch die Räume, öffne eine Tür. Am Feuer sitzt ein alter Mann, knüpft Flipflopsandalen aus Stroh. ich setze mich eine Weile zu ihm ans Feuer und träume. So also war das früher, so fühlt sich ein Gassho belebt an.

Unter dem dach wurden früher Seidenraupen gezüchtet und reis gelagert. Die entsprechenden Utensilien sind noch an Ort und Stelle. Durch ein Dachfenster fallen Sonnenstrahlen, brechen sich im aufsteigenden Rauch von der Feuerstelle unten. auf den Dächern liegt schwerer Schnee, drinnen sieht man die starke Holzkonstruktion und um die Häuser die reinste Winteridylle.

Zweieinhalb Stunden von Takayama entfernt, weiter in den Bergen, bei mehr Schnee gibt es das ganze mit mehr Authentizität. Ein echtes belebtes Gassho-Dorf im blendend weißen Schnee zwischen Bergriesen und schneebedeckten Reisfeldern. Das nostalgische Herz schlägt höher bei einer Wanderung durch dieses Land der Reiseträume. Rehspuren im Schnee und ein Fluss mit kugeliger Schneelandschaft am Ufer. Der Schnee glitzert in der Sonne, der Himmel ist strahlend blau und Kinder spielen im Glitzerschnee.

Wer wird sich über japanische Touristennostalgiker ärgern, die sich überall davor stellen, Knips, und sich fotografieren lassen. Man kann ihnen ganz gut aus dem Weg gehen. Shirakawago ist groß genug für Hippie-Nostalgiker und japanische Knips-Knips-Nostalgiker. Das praktische an den Knipsis ist, dass sie grundsätzlich nie von den beschilderten Wegen abgehen. Also die beschilderten Wege für die Knipsis und selbsterkundete für mich.

Am Mittagstisch trifft man sich dann wieder, lächelt freundlich und denkt sich seinen Teil. Die Knipsis würden mich am liebsten beim essen fotografieren, wenn da nicht so was wie Anstand wäre- die Langnase kann ja mit Stäbchen essen. Und ich würde gerne ihre Gesichter in Nahaufnahme ablichten. ich würde ihnen die Bilder dann auch furchtbar gerne gleich zeigen, damit sie sehen, wie aufdringlich sie gucken und schön brav „Sumimasen“ singen. Leider habe ich keine Polaroid-Kamera.

(Text und Bild von Carina Pesch)