Der liebeskranke Moloch

Erkundungen und Äpfel der Erkenntnis aus Beirut.

Vorgeplänkel:

Aus unerklärlichen Gründen kommen die meisten Flüge, die von Europa in den Libanon fliegen, mitten in der Nacht an. Dabei könnten die Anbieter ihre Flüge ganz einfach früher losschicken.
Damit nicht genug: Fluggesellschaften machen immer einen Zwischenstopp in ihrem Heimatland – selbst wenn das ein Umweg ist, etwa Frankfurt–London–Sydney, wenn jemand auf die Idee kommt mit British Airways dort hinzufliegen. Da ich also bei Czech Airlines mein Schnäppchen fand, fliege ich von Frankfurt nach Prag – eine Stunde und fünf Minuten –, verbringe dort eine Stunde und 40 Minuten, weil die Tschechen so heimatverbunden sind, und fliege schließlich von Prag nach Beirut – dreieinhalb Stunden.
Leipzig, wo ich wohne, liegt etwas näher an Prag als an Frankfurt. Noch dazu kostet die Zugverbindung von Leipzig nach Prag etwa ein Drittel von dem, was man für die Strecke Leipzig-Frankfurt bezahlt. Es würde folglich Sinn machen, direkt nach Prag zu fahren und dort in den Flieger zu steigen. Dennoch muss ich nach Frankfurt, sonst verfällt mein gesamter Flug.
Auf Nachfrage bei der Airline heißt es: „Sorry, but that is our policy.“ – Entschuldigung, das hatte ich mir ja schon fast gedacht, dachte allerdings auch die 14 Cent pro Minute für die Hotline hätte ich ihnen auch noch gern gespendet, schließlich war ihr Flugangebot so unschlagbar günstig. Und gerne verbringe ich drei Stunden mehr als nötig damit, zu ihren Flügen anzureisen und auf diese zu warten. Ich bin jung, mein ganzes Leben liegt vor mir und da ich mein junges Leben zu leben weiß, bin ich ihnen sogar dankbar, dass sie mir ein bisschen Verschnaufpause gönnen, Wartezeiten, die ich zur Vorbereitung auf den Libanon nutzen kann.

20 US-Dollar und eine High Five:

Wegen Beschwerde Nummer eins komme ich also um 2.20 Uhr in der Nacht in Beirut an. Der kleine Flieger steuert das Ziel vom dunklen Meer herkommend an, kurz kommt das Lichtermeer der Stadt in Sicht, dann setzen die Räder auch schon mit einem sanften Ruck auf der Landebahn auf. Niemand klatscht – Libanesen scheinen diesen Brauch genauso lächerlich zu finden wie ich. Nur eine alte Muslimin neben mir murmelt schnell und inbrünstig ein kleines Stoßgebet.
Nach drei Passkontrollen und einem weiteren Beamten, dem ich versicher, dass ich noch nie in Israel war, winkt mich ein Soldat lächelnd durch die letzte Sicherheitssperre. „I hope you enjoy your time in Lebanon“, heißt er mich freundlich willkommen. Und so stehe ich in meiner ersten Beiruter Nacht um 2.50 Uhr am Flughafen, die Nacht ist warm, es weht eine leichte Brise.
Zunächst viele Nullen in den Geldautomaten eintippen, dann mit allerlei Taxifahrern darüber streiten, dass 60 US-Dollar wirklich zu viel seien, um in die Stadt zu kommen, auch zu dieser späten Stunde. Ich erzähle ihnen einfach, meine libanesischen Freunde hätten gesagt, es würde nur 15 Dollar kosten. Schließlich einigen wir uns auf 20 Dollar, was immer noch viel ist, wenn man bedenkt, dass ein Taxi in Beirut normalerweise um die zwei Dollar kostet – egal wie weit. Doch es gibt keine Alternative; das wissen die Taxifahrer auch.

Der junge Mann sagt „yala“, was so viel wie „Komm“ oder „Auf gehts“ bedeutet und ich trotte ihm eine ganze Weile hinterher, bis ich keine Lust mehr habe und ihm sage, dass ich ja gleich laufen könne, wenn sein Taxi am anderen Ende der Stadt stünde. Er entschuldigt sich, greift zu seinem Telefon und keine zwei Minuten später ist ein Freund von ihm mit Taxi da. Das Taxi ist alt, verbeult und rostig. Der Fahrer ist noch jünger als sein Vermittler und gibt sich große Mühe cool zu sein. Sobald er mich sieht, sinkt er in möglichst lässige Position, kurbelt das Fenster runter, hängt einen Arm raus und öffnet den Mund beim Sprechen – der Coolness wegen – nur noch zu einer Seite hin. Besser verstehen kann man ihn dadurch nicht, aber wenn er meint, sich auf diese Weise besser präsentieren zu können – soll er nur machen.
Der übliche Smalltalk beginnt: Ob es mein erstes mal im Libanon sei, ob es mir gut gehe, was ich hier mache, wo ich hin müsse, wo ich her käme… bis er schließlich fragt, wie alt ich sei. Die 27 aus meinem Mund lässt ihn schlagartig wieder gerade sitzen, er zieht den Arm ein und öffnet nach einem erstaunten „Oh“ beim Sprechen den Mund wieder vollständig. Er ist erst 18 und ich somit wohl nicht seine Abschleppzielgruppe. Vorbei mit der Show – schön, dass wir das geklärt hätten.
Er geht nun dazu über mir Tipps für Beirut zu geben, sagt mir, wo das Meer sei und die guten Viertel zum Ausgehen. Dann sind wir beinah da – DIE Straße in Gemmayze, dem Ausgehviertel im christlichen Teil von Beirut. Hier wohnt die Neuseeländerin, bei der ich die ersten Nächte übernachten kann. Am Anfang der Straße hält der Taxifahrer an, ich sage ihm, dass er bis zum Restaurant Le Chef weiterfahren müsse, doch er will nicht. Er sagt, er kenne den Weg nicht und auf meine Wegbeschreibung scheint er sich nicht verlassen zu wollen. Er lässt sich lieber die Telefonnummer der Neuseeländerin geben, um sie mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln. Als er mit ihr spricht, scheint er wütend und genervt. Er schimpft und schimpft. Im nächsten Moment lacht er und sagt, dass alles nur ein Scherz sei.
Schließlich fährt er weiter, fragt noch einen Mann auf der Straße nach dem Weg, glaubt dann endlich, dass er wirklich weiterfahren muss und setzt mich am genannten Restaurant ab, wo die müde Neuseeländerin schon steht und wartet. Ich will ihm 20 Dollar geben, doch er hätte gerne für das Telefonat noch fünf extra. Den hingestreckten Schein nimmt er nicht. Das sehe ich nicht ein, steige aus und hole mein Gepäck aus dem Kofferraum. Sofort kommt er gelaufen, nimmt die 20 Dollar, spricht aber von fünf weiteren. Ich sage: „Ok, ok, you can get your five. You can get 20 and a high five.“ Wir schlagen ein, lachen und er wünscht eine gute Zeit im Libanon.

Die Stadt im Ohr:
Im sechsten Stock liege ich in der Zeit zwischen Nacht und Morgen auf einem roten Samtsofa, es ist warm und die Stadt pulsiert auch zu so später Stunde noch. Im Halbschlaf lausche ich der unbekannten Welt dort draußen: Irgendetwas erinnert dem Geräusch nach an einen gigantischen vorbeifliegenden Hummelschwarm, leise und beruhigend murmeln Muezzins in der Ferne, Baulärm – Gehämmer, Geflexe und fallender Schutt –, ein Generator brummt, Autos hupen, Motoren rattern und heulen auf, Zikaden untermalen den Lärm mit sanftem Gesang, Tauben flattern und gurren, ein Hahn hört nicht auf zu krähen, vor dem Haus hält ein Auto, orientalische Musik läuft, jemand singt immer wieder und wieder „habibi“. Was ist das für ein liebeskranker, baufälliger Moloch, der da vor dem Fenster auf mich wartet, während ich versuche zu schlafen?

Der Rundgang:
Am nächsten Morgen wander ich durch die Stadt. In meinem Viertel stehen schlichte beigefarbene Wohnhochhäuser mit Fensterläden und Balkonen zu allen Seiten. Davor, zur Straße hin, heruntergekommene Kolonialbauten. Hier und da sind Einschusslöcher zu sehen, Stuck bröckelt. Da, wo Bomben Löcher in alte Häuser rissen, hat man sie mit Steinen wieder zugemauert, aber nicht verputzt. Teilweise fehlen Fensterscheiben. Libanesische Flaggen hängen an den Fassaden und wehen sacht im Wind. Verwunschene Stimmung, eine Mischung aus Verschlafenheit, Ruhe, Chaos und verworrener Geschichte.

Jedem Millimeter der Straße ist anzusehen, dass er so viele Geschichten zu erzählen hätte, wenn er nur sprechen könnte. Stattdessen herrscht Schweigen, das gilt auch für viele Menschen. Sie beschweren sich hier und da über all die Dinge, die nicht funktionieren und können nicht verstehen, wieso all die Europäer und Nordamerikaner zum Studieren und Urlaub machen in ihr Land reisen. Studieren und Urlaub machen – das macht man doch dort, wo alles funktioniert, wo alles heil ist, in Paris oder London, in der „zivilisierten Welt“. Das sagen sie tatsächlich und meinen damit ein funktionierendes Stromnetz, Politik ohne Klientelismus und Korruption, dass sich eigene Leistung mehr lohnt als die eigene Familie.

Ein Libanese erzählt mir, dass es mit jedem Krieg schlimmer werde. Denn im Krieg würden vor allem die normalen Bürger das Land verlassen. Bleiben würden die Reichen, die mit Einfluss, die mit Dreck am Stecken und – die Armen. Die korrupten Reichen hätten sich zwar in den letzten Jahren nicht vermehrt, durch die vielen Auswanderer ihren Anteil jedoch schon. Darüber beschweren sich die Libanesen, mit denen ich spreche, oft. Frage ich sie jedoch nach dem letzten Krieg gegen Israel 2006 oder nach dem Bürgerkrieg, dann erzählen sie nicht viel. Höchstens vielleicht, dass sie das alles nicht richtig mitbekommen haben, weil sie sich in die Berge zurückzogen. Der Libanon scheint müde vom Krieg, er möchte nach Vorne, er möchte Feiern, er möchte Kultur.

In den brüchigen Jugendstilhäusern folgt eine Bar auf die nächste. Junge Menschen mit strahlenden Augen und stilvoller Kleidung lungern auf den Barhockern herum. Bereits morgens bestellen sie Cocktails, damit sie den ganzen Tag den Lebensstil der Bohemia pflegen können. Lila Blüten wirken vor blauem Himmel beinah wie vorbeiziehender Rauch. Kleine Gemüseläden und Antiquariate haben sich zwischen die Bars gemogelt. Es gibt Fruchtsäfte und Manuchee, eine Art libanesische Pizza mit Käse und Salat, zu kaufen. Der Geruch ist ein Durcheinander aus feinen Speisen, Obst in der prallen Mittagssonne, Abgasen und zerriebenem Putz. Auf den Balkonen sitzen Männer mehrerer Generationen und rauchen eine nach der anderen.

Soldaten – weiß-grau gescheckt mit Maschinengewehren um die Hälse gehängt, die ihnen zwischen den Beinen baumeln – sitzen sinnlos in kleinen Holzhäuschen herum, dirigieren den Verkehr, bewachen an willkürlich gewählten Orten Absperrungen, laufen von einer Straßenseite zur nächsten und natürlich rauchen sie dazu. Was sollten sie auch sonst tun?

Am Ende der Kneipenmeile thront eine große Moschee aus Sandstein mit blauer Kuppel – völlig unbeschädigt, neu strahlend wie aus 1001 Nacht. Davor eine große Kreuzung. Die Straße in jede Richtung dreispurig, wenn es Spuren gäbe. In jedem Fall ist sie voller hupender Autos. Es gibt Ampeln, auch Fußgängerampeln, die manchmal funktionieren. Leider nicht allzu oft, denn häufig gibt es Stromausfälle und ohne Strom keine Ampel.

Irgendwo in Beirut ist eigentlich immer Stromausfall, denn es wird nicht genug produziert. Daher wird rationiert. Jeder Stadtteil bekommt zu einer anderen Uhrzeit Strom: In Gemmayze gibt es meist morgens zwischen acht und 11 Uhr keinen Strom, in Hamra gibt es abends keinen Strom. Das heißt, irgendwo in der Stadt funktionieren die Ampeln meistens, aber meistens nicht dort, wo man selbst gerade ist.

Funktionieren die Ampeln, kommen die Autos bei rot sogar zögerlich zum Stehen – wenn auch nicht alle. Doch als könnten sie es nicht erwarten, als würde ein großer Magnet am anderen Ende der Straße sie langsam aber stetig anziehen, drängeln sie bei rot immer weiter vorwärts. Um zu Fuß auf die andere Seite zu kommen, muss man entweder mutig und bestimmt vorwärts stürmen, vielleicht eine Hand als Stoppzeichen für die Autos ausgestreckt, oder man wartet, bis eine erfahrene Libanesin das gleiche Ziel hat und heftet sich an ihre Fersen. Sie wird schon wissen, was sie da tut. Es ist gewöhnungsbedürftig, aber funktioniert erstaunlich gut.

Hinter der Kreuzung beginnt das Zentrum der Stadt. Es ist astrein saniert. Die Häuser sehen nur noch alt aus, sind aber nach dem Krieg 2006 komplett neu gebaut worden. Markelloser Sandstein an Fassaden, Torbögen formen Galerien wie in Italien, teure Designershops für saudische Besucher, pakistanische Putzmänner, die mit Staubwedeln aus Federn die nostalgischen Laternen abstauben, kleine Plätze mit Cafés. Doch alles wirkt unbelebt, wie eine künstliche Insel in der Stadt. Leben ist anderswo.

Hinter der reichen Welt erhebt sich das libanesische Parlament, Flaggen wehen im Wind, Militär bewacht die Eingänge, es darf nicht fotografiert werden, Männer in maßgeschneiderten dunklen Anzügen, mit dunklen Sonnenbrillen, mit Mikrofon und Kopfhörern verkabelt, gehen ein und aus – Willkommen im Libanon, dem Land, in dem Politiker sein ein gefährlicher Job ist.

Ein paar Tage später gehe ich wieder am Parlament vorbei: Etwa fünf Menschen stehen davor, halten ein UNICEF-Plakat in die Höhe. Bewacht werden sie von etwa 100 Polizisten und Soldaten, Straßensperren riegeln den Weg zum Parlament großräumig ab. Doch ohne Einwand kann ich um die Straßensperren herum gehen, an all den Soldaten und Polizisten vorbei, die freundlich grüßen. Das interessiert niemanden und alle anderen machen dasselbe. Nur ein Soldat möchte gerne mit mir befreundet sein, möchte das sehr hartnäckig und am liebsten auch meine Telefonnummer. Mit einem Mann, der ein Gewehr trägt, legt man sich besser nicht an. Dennoch sage ich ihm, dass ich nicht sein Freund sein will. Das versteht er nicht. Schließlich gibt er sich mit einer E-Mail Adresse zufrieden, von der ich ihm sogar sage, dass sie nicht funktioniert. Auf diese Weise kann er vor seinem Kumpel aber sein Gesicht wahren. Wir sind beide halbwegs zufrieden und ich darf weiter gehen.

Einige Schritte weiter beginnt Hamra – wie Gemmayze ein Ausgehviertel mit vielen Cafés, nur dass hier die Jugendstilhäuser mit ihren Antiquitätenläden fehlen, weniger Christen und mehr sunnitische Muslime leben und sich auf der Hauptstraße ein H&M an das nächste schmiegt. Häufiger als in Gemmayze schlendern verschleierte Frauen die Straßen entlang. Sie sind sehr modisch gekleidet. Am Eingang einer Boutique steht auf einem Plakat: „I don‘t want to cause any trouble, I just want fashion.“ – Vielleicht durchaus ein politisches Statement.

Ein Grüppchen von drei Frauen sitzt in einem Café. Eine von ihnen trägt den Schleier, die anderen nicht – eine jede so, wie sie möchte. Sie rauchen Wasserpfeife, bestellen libanesische Vorspeisen und begrüßen ihre männlichen Freunde mit Wangenküsschen. Über ihren Köpfen hängt ein Pop-Art-Bild: Eine Frauensilhouette auf schwarzem Grund, ausgefüllt mit einem Prilblumenmuster. Über ihrem Kopf steht in arabischer Schrift „kifak inta?“ – „Wie geht es dir?“ an eine männliche Person gerichtet.

In einem Satz wechseln die drei Frauen mehrfach zwischen den drei Sprachen, die sie alle fließend sprechen. Mal ist es Englisch, mal Französisch, mal Arabisch. Wahrscheinlich reden sie über eine Vernissage, eine Performance oder ein Theaterstück. Kulturell erblüht die Stadt seit kurzer Zeit. Die Stadt scheint ausgehungert. Schlägt sich den Bauch voll. Jeder ist Feuer und Flamme für Beiruts Nachtleben, für alternatives Kino, für kulturellen Austausch jeder Art. Erst einen Cocktail schlürfen in der angesagten Graffiti-Bar, dazu spielt kostenlos eine Live-Band. Dann eine Bauchtanz-Performance mit schwulem Tänzer im Beach Club. Später die ganze Nacht zu arabischer Diskomusik und Freigetränken am Hafen tanzen. Zum Sonnenaufgang mit Blick auf das Meer frühstücken. Kurz ein paar Stunden schlafen, um für die Podiumsdiskussion über Denkmalschutz und Stadtentwicklung am Nachmittag und dieses experimentelle Theaterstück – wie hieß es noch gleich – am Abend wieder fit zu sein.

Der Apfel oder die Erkenntnis:
In einem Café bestelle ich mir eine Minzlimonade und nutze das kostenlose Internet. Völlig versunken in den Zitronenminzgeschmack zu hellem Bildschirmgeflimmer, bemerke ich nicht, dass sich ein alter Libanese nähert. Er steht daher plötzlich vor mir und spricht mich auf deutsch an. Ich bin völlig verdutzt und antworte nicht sofort. Er fängt an englisch zu sprechen. Erst dann bringe ich ein „Woher wissen Sie, dass ich deutsch spreche?“ hervor. Er schmunzelt, rückt seine braune Weste zurecht, in deren Brusttasche ein weißes Taschentuch steckt, schmunzelt weiter und lässt sich mit seiner Antwort Zeit. Das wisse er eben, es sei das Gesicht. Ob er ein wenig deutsch mit mir sprechen dürfe. Ich nicke und biete ihm an zu sitzen.

Er habe 35 Jahre in Deutschland gelebt, an der Humboldt-Universität in Berlin gelehrt, habe den gesamten Brecht ins Arabische übersetzt und 12 Kinder. Er lacht. Um seine grünen Augen bilden sich freundliche Falten. Ich sage oder rufe vielmehr erstaunt: „12 Kinder!“ Er schmunzelt, zückt einen Ausweis für eine der großen Beiruter Zeitungen. Seine 12 Kinder seien seine 12 Bücher.

Geheiratet habe er nie, zu sehr sei er Casanova gewesen und zu sehr habe er die deutschen Frauen geliebt. Er zwinkert und fragt mich, was ich von Heirat halte. Ich sage, nicht viel. Er fragt weiter, ob ich einen Freund habe. Ich sage, ja. Im Libanon? Nein. Dann bräuchte ich noch einen im Libanon, meint er. Ich sage, nein. Aber wer denn dann auf mich aufpassen würde. Ich selbst. Er schüttelt den Kopf. Nein, nein, nein, so würde das nicht gehen. Er bietet an, mein Protégé zu sein.

Er sagt feierlich: „Ab jetzt werde ich dich beschützen. Wenn du Hilfe brauchst, dann wirst du mir Bescheid sagen und ich werde dir helfen. Von nun an bin ich dein großer Bruder.“ Ich lache. Er ist über 60 Jahre alt und wohl eher mein Großvater. Dass ich das nicht nur denke, sondern auch sage, findet er nicht so lustig. Etwas gekränkt fragt er, wie er mir helfen könne. Mir fällt nichts ein. Er sagt, er würde mir anbieten, bei ihm zu wohnen, aber das ginge leider nicht, da er bei seinem Schwager wohne. Seine Schwester und sein Schwager seien erst Marxisten gewesen, heute seien sie Islamisten und das wolle er mir nicht zumuten. Dann fällt mir immer noch nichts ein. Also erfindet er etwas:

Ich bräuchte einen Apfel und ich hätte Glück, denn er könne mir helfen. Jeden Morgen stecke er einen Apfel in seine linke Anzugtasche. Er holt mit dem linken Arm theatralisch aus und zaubert einen roten Apfel hervor: „Es war einmal vor langer langer Zeit“, setzt er bedeutungsvoll an. „Da gab es eine berühmte Frau und einen berühmten Mann, die lebten irgendwo. Eines Tages schenkte die Frau dem Mann einen Apfel, die Erkenntnis…“ Heute sei nun der Tag gekommen, wo sich alles umdrehe. Er würde mir nun einen Apfel schenken.

Er lacht. Er sagt: „Welcome to Lebanon, get to know about the differences“ und geht davon.

Unterschiede, die ich bisher ausfindig gemacht habe: In Deutschland beschwert man sich über blödsinnige „policy“, über absurde realitätsferne Regelungen. Im Libanon gibt es gar keine „policy“. Auch darüber beschwert man sich gerne. Deutschland ist eine rosa-rote Seifenblase. In Beirut haben die Menschen mindestens einen Krieg miterlebt, es sei denn sie sind jünger als vier Jahre. Sind sie älter als 20 Jahre, dann haben sie auch den 15jährigen Bürgerkrieg erlebt. Das heißt, sie sind über zuckende Leichen geflohen, sie haben Familienangehörige verloren, sie haben mindestens einen Invaliden in der Familie, sie haben ihre Nachbarn bekämpft, sie kennen Menschen, die getötet haben oder haben es selbst getan, vielleicht haben sie auch das eine oder andere Leben gerettet, sie haben alles Hab und Gut verloren, sind vielleicht verrückt geworden oder können das alles einfach nicht mehr hören. Welcome to Lebanon, dem Land der Gegensätze.

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