Herr Soundso

Ja also, wissen Sie, ich kann einfach nicht anders. Ich muss ständig Geschichten erzählen. Was wird er jetzt dazu sagen? Also die gehen mir sonst nicht aus dem Kopf, die gehen mir so oder so durch den Kopf. Ich kann das nicht abschalten, das geht einfach nicht. Kennen Sie das, Sie haben eine Geschichte im Kopf- sie kommt einfach so, aus dem Nichts- dann ist sie da, dann wollen Sie sie aufschreiben, unbedingt. Sie fangen an und schreiben, denken schnell, schreiben zu langsam. Wissen Sie, was ich meine? Sie schreiben zu langsam. Im Hintergrund läuft spanische Musik, die ist viel schneller- die Sprache, meine ich. Spanisch kann man viel schneller sprechen, ja so ist das. Und Sie schreiben zu langsam, das ärgert Sie, und Sie können nicht weiter schreiben, versuchen etwas anderes zu tun, Ihnen fällt nichts ein, versuchen etwas anderes zu denken, das geht nicht. Sie schreiben also doch weiter. Die Musik wird immer schneller, so wie ihre Gedanken. Das ist ein Parallelismus, wissen Sie. Ich denke immer in Stilmitteln- in diesen Zuständen, meine ich. Und das hört dann nicht mehr auf. Ihre Gedanken zu schnell, Ihre Hand zu langsam, und Sie schreiben trotzdem.

Nennen Sie das einen Zustand, einen kranken? Nennen Sie das? … Ist das Kunst? Und wenn man das am nächsten Morgen nicht mehr lesen kann, ohne dass einem speiübel wird, und das auch noch weiß,- das ist einem völlig bewusst-, und dennoch weiter schreibt, ist das dann krank? Nennen Sie das so? Ist das die Kunst? Ist das die Kunst, dass Sie das einen kranken Zustand nennen?

Ich weiß es nicht- schaun Sie mich gar nicht so an. Ich kann keine Antworten geben, nur Fragen und darum ranken sich dann Geschichten- alles Möglichkeiten wie die Antworten aussehen könnten.

Und er, was ist mit ihm? Meinen Sie, er gehört auch zu diesem Zustand? Vielleicht ist er der Grund. Er sitzt jetzt auf seinem Sofa, in dem Zimmer, wo es steht. In dem anderen Zimmer mag er es nicht so- zu eng. Es ist ein wenig kleiner, das ist es, das betont er. Im engen steht sein Bett, doch er ist lieber nebenan. Da steht das Sofa, da sitzt er jetzt. Vor ihm steht ein kleiner Fernseher, das Bild flackert. Da läuft irgendein Mickey-Maus-Bild, doch in seinem Kopf da läuft das Bild Deutschland gegen Brasilien 0:4. Man erkannte kaum etwas, ganz klein war die Deutsche Elf, ganz klein und der Rasen mal lila, mal gelb, dann neongrün. Beim zweiten Tor fiel der Strom aus. Das machte nichts- war eh blöd. Alle anderen am Jubeln und zwischen den Zähnen eine Bambussprosse in Curry getunkt. Das war schön, ob er es noch weiß? Ich schon- geht mir nicht aus dem Kopf: Der Blick auf den Strand- weiß- das blaue Meer, Fischerboote, Felsen rechts- ganz hoch und bizarre, mit Höhlen drin, die Wellen klatschten dagegen, Pratzsch! Und die Krebse- die kleinen und die großen- und du auf Jagd, dann der Kampf mit dem Krabbenkönig, ein Schrei und eine tote Krabbe. Dann tat es dir leid, ganz schrecklich leid einen Artgenossen auf dem Gewissen zu haben. Du hast geflucht, ich gelacht.

Ich sehe das Ganze immer, als hätte ich es aus einer Hängematte heraus, liegend, wie in einem kleinen Fernseher gesehen. Im Hintergrund das Spiel und dann das Spiel mit dir. Es war schön. War? Und was sagt er nun dazu? Ich weiß es nicht. Würde ich schon gerne wissen, ja das sicherlich. Aber ist das die Antwort? Auf die Frage oder zu der Geschichte? Und ist das nicht dasselbe? Ich kenne die Antwort nicht, schaun Sie mich gar nicht so an. Ich erzähle bloß, so wie ich denke, und das ist zu schnell- erwähnte ich schon- aber nennen Sie das nun krank? Ist es Kunst? Woher soll ich das wissen? Was ist Kunst? Bildet Kunst? Bildende Künste? Was ist Ihre Kunst? Ist es, was Sie besonders gut können? Lebenskünstler- sind wir das nicht alle? Ist ein Mediziner mehr wert als ein Künstler? Ist er gar ein Künstler? Bringt er mehr? Ist die Kunst nicht belebender, reinigender, erfrischender, vertrauensvoller oder tückischer? Gilt es darauf eine Antwort zu finden? Ist das die Kunst? Aber die Geschichten findet man so oder so dazu. Da kann man gar nichts gegen tun. Hat nicht jeder so seine Geschichten? Familiengeschichten, Lebensgeschichte, Liebesgeschichten, Leidensgeschichten… Und liegt die Schönheit nicht in dem Unmittelbaren, dem Unbedingten? Unbedingt ist unbedingt das interessanteste Wort des Jahres. Deutschland sucht den Superstar des Jahres, Harald Schmidt sucht das Satzzeichen des Jahres- es ist der Punkt, das sollten Sie aber wissen. Und ich finde, man muss unbedingt das Wort, das interessanteste Wort des Jahres wählen. Das ist „unbedingt“. Unbedingt sollte man unbedingt sein. Das könnte heißen: Auf jeden Fall sollten wir ohne Dinge sein, arm sein oder ohne schlechter Dinge, ohne Sorgen, ohne Kummer. Oder auch: Ohne Sorgen sollten wir arm sein. Das könnte es auch heißen- glauben Sie nicht? Dann besuchen Sie doch mal eine Logik-Sitzung. Aber ach, wofür sollten Sie das noch brauchen?

Haben Sie Medizin studiert? In was für einen Zustand hat es Sie versetzt? Ist es nicht noch viel kränker an toten Dingen zunächst und dann gar an lebendigen Dingen zu experimentieren? Aber es ist ja für einen guten Zweck, wollen Sie sagen? Ach so, aber ist Kunst denn nicht für einen guten Zweck? Für Informationsweitergabe, Reinigung, Chaosordnung, Flexibilität, Bewältigung, Belebung, Seelenruh… Damit können Sie wohl nichts anfangen, was? Sie interessieren sich wohl nicht für Literatur, lesen immer nur Ihre Fachliteratur. Nun die Literatur als solches ist eben meine Fachliteratur. Meine Fachliteratur entwendet die Sprache, klaut sie aus dem Sinn- und Zweckzusammenhang. Ja, das tut sie und sie ist gut darin, manchmal zumindest. Meine Geschichte konzentriert sich auf sich selbst, ist immer nur mit sich beschäftigt, nie mit mir. Manchmal fühle ich mich vernachlässigt, wissen Sie? Und nun sitzen Sie da und sagen meine Geschichten sein unnütz, funktionslos. Wie können Sie das wagen, nachdem ich Ihnen schon sagte, welche Qualen ich ihretwegen leide. Aber Sie sagen ja gar nichts! Soll ich es Ihnen noch einmal so erklären, dass Sie auch hinterherkommen? Gut, überredet. Ich werde es tun; hören Sie gut zu:

Wie viele Menschen lesen vor dem Schlafengehen ein Buch?- „Och, ich leg mich schon mal hin und les noch was.“ Wie viele Menschen gehen vor dem Schlafengehen zum Mediziner? Wie viele Zähneputzen? Wie viele Schlafen über einem guten Buch ein oder über einem langweiligen? Wie viele schlafen über einem guten Mediziner ein? Wie viele über einem langweiligen? Wie viele träumen von einem guten Buch? Wie viele von einem guten Mediziner? fragen Sie?

Ja aber, wie viele träumen von einem schlechten Buch, wie viele von einem schlechten Mediziner? frage ich Sie. Da sagen Sie nichts mehr, was? Gut so, so sollte es sein niemand hat eine andere Meinung und die Kunst hat gesiegt. Chancengleichheit nennt man das, verstehen Sie das? Geht das in Ihren Kopf?

Oh, ich werde langsam müde. Schon, denken Sie. Ich will Ihnen mal was sagen, was Sie denken ist nicht so wichtig, wie was er denkt. Wie geht es Ihnen nun? Schlecht was? Denn jetzt sind Sie plötzlich gar nicht mehr so wichtig in ihrem schönen Lehnstuhl. Aber das ist auch nicht so wichtig.

Wie geht es ihm? Er sitzt vor seinem Fernseher. Nein, es ist natürlich Samstag Abend. Da ist er aus, aus dem Haus. Wann er wieder kommt? Das verrät er nicht. Er verrät nicht allzu viel, ist eher schweigsam. Ja, das muss ich wohl akzeptieren. Manchmal muss man die Dinge so nehmen wie sie sind, auch wenn es einem nicht gefällt. Man darf nicht immer von seinem Standpunkt aus alles betrachten. Man muss flexibel sein, sich in andere Menschen versetzen können. Und nichts anderes tue ich die ganze Zeit. Ich wechsel Standpunkte, erfinde alles neu. Bin ich deshalb gleich krank, nein doch nur flexibel. Sagen Sie schon was dazu. Was bin ich nun, wer bin ich? Und Sie bleiben schon wieder stumm, sagen einfach nichts dazu. Spielverderber.

Führen Sie nicht auch manchmal Selbstgespräche oder sind Sie immer so stumm? Aber wenn Sie mit sich selber reden- und wenn auch nur ganz leise im eigenen Kopf- sind Sie dann nicht ganz furchtbar ehrlich zu sich? Und wenn Sie diese Ehrlichkeit dann niederschreiben wollen- das wollen Sie gar nicht? Na schön, aber Sie müssen schon zugeben, dass es nur einleuchtet, flüchtige Ehrlichkeit festzuhalten. Also, Sie schreiben die Ehrlichkeit nieder, damit sie nicht verfliegt. Verstehen Sie das wenigstens ein klein wenig? Das wir uns nicht falsch verstehen: Diese Ehrlichkeit ist nicht die Wahrheit, das will ich gar nicht sagen. Dafür kennen wir Goethe zu gut, der übrigens nicht zum Deutschen des Jahres gewählt wurde. Nein, die Geschichten, die ehrlichen Geschichten verschleiern die Wahrheit nur noch mehr. Doch zumindest zeigen sie, die ehrlichen Geschichten und die Lügenmärchen, die Form der Wahrheit hinter sachtem Schleier. Ehrlichkeit verschleiert die Wahrheit, glauben Sie mir, und so tut es die Geschichte. Das ist wieder ein Parallelismus- Der kennt auch kein anderes Stilmittel, denken Sie und verdrehen die Augen. Ich will Ihnen mal was sagen: Man fährt sich fest auf eine Sache, verharkt sich. Das ist nicht gut, ja sicherlich, das weiß ich selber. Aber was will man machen. Es passiert einfach so, so wie mit den Geschichten. Ich habe mich in meinen Geschichten verharkt. Sie sind ehrlich, ja sicherlich, doch ich halte sie oft für die Wahrheit. Ich habe mich festgefahren.

Erzähle ich zu viel, meinen Sie? Aber ich muss es ja doch tun, erzählen meine ich. Da führt kein Weg dran vorbei. Und dafür bin ich doch schließlich auch hier, oder? Ist doch gut für Sie, so brauchen Sie keine Fragen stellen, können sich zurücklehnen, zuhören und entspannen. Ich erledige die Arbeit, ich erzähle Ihnen alles. Ich erzähle Geschichten, bin ein Geschichtenerzähler. Meinen Sie ein guter? Wohl doch eher ein mittelmäßiger, was? Das gefällt mir nicht, nein sicherlich nicht, aber was will man machen? Ich habe in Erwägung gezogen, etwas anderes mit mir anzufangen, aber ich kann es doch nicht. Da habe ich es aufgegeben. Ich habe mich in den ersten Anfängen geschlagen gegeben, habe mich zurück in mein nicht einfaches Schicksal begeben. Und hier bin ich nun gelandet. Mein ganzes Leben ist eine Geschichte- eine ehrliche oder eine Lügengeschichte. Ich erfinde mich jeden Tag neu. Es gibt keine Konstante, nur dass alles zu einer Geschichte gehört. Doch irgendwann wird die Geschichte zu Ende sein, sie ist ja nicht die unendliche. Davor habe ich Angst. Wer wird dann für mich weiter erzählen? Das wird ein Problem sein. Ohne Geschichten wird die Welt versinken.

Ich sehe das so: Die Welt ist ein alter Gummiball. Sie gehört den Göttern und ist schon älter, ein älteres Spielzeug, das langweilig geworden ist. Darum haben die Götter die Welt zu den anderen langweiligen Dingen gelegt. Sie liegt nun in einer Badewanne. Dort liegen all die langweiligen Spielzeuge der Götter. In der Wanne ist auch Wasser, deshalb ist es eine Badewanne, doch niemand badet darin. Das Wasser ist rosa und auf dem Wasser treiben zwei Bücher. Ja, und diese Bücher tragen die Welt. Wenn das rosa Wasser die Bücher aufweicht und sie untergehen, dann tut es auch die Welt. Der einzige Ausweg, der noch bleibt, ist die Bücher ständig mit neuen Geschichten zu füllen, die sich nicht allzu schnell auflösen. Doch das tun die meisten, sie lösen sich auf und gehen unter. Ich würde gerne eine Geschichte erzählen, die sich nicht so schnell auflöst. Das wäre eine gute Geschichte. Dann könnte ich aufhören zu erzählen, dann wäre ich befreit. Doch wie Sie schon richtig erkannten, sind meine erzählten Geschichten mittelmäßig, und so lösen sie sich schnell auf. Deshalb darf ich nicht aufhören, zu erzählen. Dann geht die Welt unter, und ich bin schuld.

Viele Probleme wären durch einen Weltuntergang gelöst, ja sicherlich. Nur dann wäre er auch untergegangen. Das würde ich nicht ertragen und ich wäre schuld. Nein, er soll sein Ende nicht im rosa Badewasser der Götter finden. Er nicht. Ich erzähle nur für ihn. Er bedeutet mir wirklich viel. Wer er ist? Das ist gar nicht so wichtig. Er ist irgendwer. Vielleicht ist er der Wurstverkäufer aus der Stadt, vielleicht der nette Briefträger oder der Bürgermeister. Schaun Sie mich nicht so an, ich kenne die Antwort nicht, und sie spielt auch gar keine Rolle. Ich habe ihn ja noch nicht getroffen. Ja, und dennoch kann ich nicht anders, als ständig an ihn zu denken. Wir haben wirklich schon viel mit einander erlebt- er und ich. Er ist immer bei mir. Er weiß es nicht. Aber ich weiß eine Menge über ihn.

Nennen Sie das einen kranken Zustand? Nein, ich bin nicht krank, ich sage es Ihnen hier in aller Deutlichkeit, egal wie Sie sich entscheiden werden. Das ist unwichtig. Ich werde weiter erzählen, um die Welt zu retten, um ihn zu retten. Das werde ich tun. Ich muss es tun, und Sie werden mich nicht davon abhalten, Sie nicht, auch wenn Sie zehn Doktortitel haben. Das sage ich Ihnen, und jetzt bin ich wirklich müde.

Ein Mann im weißen Kittel, auf seiner Klingel stand „Dr. Dr. Arthur Weißer“, schaute auf die Uhr. Eine Stunde schon. Er schloss sein Notizbuch, legte darauf die gefalteten Hände, holte tief Luft und blickte minutenlang ins Leere. Dann erhob er sich, komplimentierte Herrn Soundso zur Tür, schloss sie hinter ihm, setzte sich an seinen großen Schreibtisch und nahm einen Stift zur Hand. Das konnte einen ganz schön fertig machen. Er zog die Kappe vom Füllfederhalter und kritzelte auf ein gelbes Formular: „Schwerer Fall Komma diagnostizierte Persönlichkeitsstörung Schrägstrich -spaltung Komma Behandlung dringend erforderlich Komma Suizidgefährdet Komma Wahnvorstellungen Komma keine Bindung zur Realität vorhanden Komma…
Er überlegte einen Moment, blickte auf, starrte ins Leere. Dann strich er bereits Geschriebenes durch und setzte ein Kreuz vor die Zeile: „Patient ist dringend in die geschlossene Anstalt zu überweisen.“ Er gähnte, legte den Füllfederhalter nieder und verließ einige Zeit später den Raum. Von wegen er könne sich zurücklehnen, zuhören und entspannen. Herr Soundso hatte ja keine Ahnung. Er schloss die Tür. Das war ihm zu viel.