I woofed myself to death

Ina Shi. Eine Stunde stehe ich vor dem kleinen Bahnhof in Ina Shi. Ina Shi ist eine Kleinstadt in der Provinz Nagano; sie liegt in einem langen Tal in den Schnee bedeckten Bergen auf der Hauptinsel Honshu. Menschen sprechen mich an, ich verstehe kein Wort. Moment mal, war das da eben nicht portugiesisch? Drei etwas schwabbelige junge Japaner in Baggypants und weiten Shirts sprechen tatsächlich portugiesisch. Ich habe das Gefühl, in ein Zeitloch gefallen zu sein- Brasilien, Portugiesisch das war doch die letzte Reise vor 2 Jahren. Bin ich auch wirklich richtig hier? Vielleicht ist der Zug aus Versehen nach Brasilien gefahren, ich bin mal kurz eingeschlafen, vielleicht habe ich es nicht gemerkt.

Eigentlich sollen mich die Gastgeber abholen. Gastgeber von WWOOF- Willing Workers On Organic Farms. Das ist eine Organisation, die per Internet zwischen Arbeitsuchenden und Arbeitgebenden in allerlei Ländern vermittelt. Ein guter Weg auch in teuren Ländern wie Japan günstig zu reisen. Für die 4-6 Stunden Arbeit pro Tag bekommt man Unterkunft und Verpflegung umsonst und einen guten Einblick in das tägliche Leben des jeweiligen Landes. Bei den ausgewählten Gastgebern warten auch schon meine große und meine kleine Reisebegleitung. Aber wo bleiben die Gastgeber? Die nächste Telefonzelle ist nicht weit, ich rufe sie an. Ah, sie haben die Zeit vergessen, sind in zwanzig Minuten da. Sehr sympathisch.

Kurz darauf fährt ein silberner Geländewagen vor, hoch über der Straße, in der Sonne blitzend. Irgendwie habe ich gewusst, dass es ein silberner Geländewagen sein würde. Den habe ich mir ausgemalt, während ich in der Kälte wartete und nach möglichen Abholern Ausschau hielt. Eine strahlende Frau mit Pudelmütze auf dem Kopf und gemütlicher Kleidung springt aus dem Auto, unter der Mütze ein Lachen- „Solly fol being late“, sagt sie. Kein Problem. Schon sitze ich im Riesenschlitten, fünf Meter über der Fahrbahn, habe einen Säugling mit Triefnase auf dem Arm und eine Dreijährige hinter mir, die mir in den Rücken tritt. Ich erinnere mich, dass ich als Kind auch immer gerne gegen den Sitz vor mir gestrampelt habe – eine gute Möglichkeit Aufmerksamkeit zu bekommen- auch wenn es nicht immer freundliche Aufmerksamkeit ist. Noch mit im Auto sitzt eine andere Wwooferin aus Kalifornien, sehr freundliche braune Schmunzelaugen.

Kurze Zeit später fahren wir aus der Stadt hinaus, zwischen Reisfeldern entlang, die Berge hoch. Zedern – gefällte, zerstückelte und munter in der Erde verwurzelte Zedern. Dahinter drei Holzhäuser – ein original alt-japanisches mit bemoostem Strohdach, ein finnisches Blockhaus und ein Holzkindergarten mit Wurzelschaukel davor. Die strahlende Frau aus dem Silberschlitten, sie heißt Mariko, führt hier in den Bergen einen Kindergarten, ihr Mann, Kazuo, baut finnische Blockhäuser, in dem traditionellen Haus wohnt seine Mutter – ohne Heizung, ohne warmes Wasser aus der Leitung, traditionell eben.

Das neue Heim, in dem ich gerade lande, ist ein Ort zum Wohlfühlen, mit Blick ins Tal und auf die dahinter liegenden Schneeberge. Die Menschen kommen mir sofort vertraut vor, wie lang bekannte Gesichter, die ich schon lange einmal wieder besuchen wollte. Im finnischen Holzhaus wärmt mich ein gusseiserner Ofen nach langer Wartezeit am brasilianisch-japanischen Bahnhof. Hier erfahre ich, dass viele Brasil-Japaner in Ina Shi leben,- daher die Zeitreise ins zwei Jahre entfernte Brasilien. Auch meine Reisebegleiter sitzen vor dem Ofen- Wiedersehen nach kurzer Trennung.

Die wohlige Ofenwärme und Teepause dauern nicht lange. Schon am nächsten Morgen erfahre ich, was es mit den gefällten und zerstückelten Zedern auf sich hat. Unsere Arbeit ruft; der Wald soll aufgeräumt werden. Sieben Uhr aufstehen, Feuer machen, Frühstück für die Familie und ein kurzer früher Schmaus für die Willing Workers. Dann geht es los. Eine Woche hantieren die drei Wwoofer mit Handsägen und Handkarren, zerkleinern Zedern und ziehen die Bäume im Karren wie Ochsen den Berg hinauf. Oben angelangt wird der Karren entladen, der Inhalt die Böschung hinter der Werkstatt hinunter geworfen.

Die Kalifornierin und ich üben uns im Speerwurf mit halben Bäumen- vielleicht werden wir bald die Olympiade im Baumwurf gewinnen. Zwischendurch vollführt die amerikanische Dame kleine, sehr amerikanische Cheerleader-Performances, um mich anzufeuern und uns bei Laune zu halten. Bambusstämme müssen als Lanzen herhalten, es werden heimlich alt-europäische Ritterkämpfe zelebriert. Abends stürmen dann japanische Hippies für Konzerte das finnische Blockhaus, spielen überleierte Hippiemusik, die schon in den 60er Jahren schlecht gewesen wäre. Aber ihre ausdrucksstarken Gesichter sind dabei so glücklich und friedlich, die Atmosphäre so entspannt, dass man es ihnen nicht verübeln kann. Als Entschädigung gibt es Trommel- und Didgeridooklänge vom Feinsten. Auch Jazzmusik und Country mit Banjo trumpfen auf.

Interkulturelles Rahmenprogramm für harte Arbeit. We wwoofed ourselves to death!

Und dann war da noch Weihnachten, ganz japanisch-deutsch. Ich habe mich bereit erklärt deutsches Weihnachtsessen für neugierige Japaner zu bereiten. Also gibt es Forelle mit gerösteten Mandeln und Bratapfel mit Vanillesauce. Allerdings wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es in Japan ein wenig anders zugeht: Hier feiert man Sylvester im trauten Kreis der Familie und Weihnachten macht man Party mit Freunden. Da meine Gastgeber viele Freunde haben, kommen zu Weihnachten viele Gäste. Das erfahre ich beim Weihnachtseinkauf, als Kazuo (der Hausherr) 15 Fische, die keine Forellen sind, und 15 rosige Riesenäpfel in den Wagen lädt. Im Hintergrund dudelt es aus Lautsprechern amerikanische Weihnachtsmusik, „Rudolph the rednosed reindeer“ läuft auf repeat. Na, das kann ja was geben… ich habe noch nie selber die Weihnachtsforellen gebraten. Jetzt sind es auf Anhieb 15 Stück und es sind nicht einmal echte Forellen. Wer weiß wie japanische Fische sich verhalten, wenn sie fälschlicher Weise als deutsche Weihnachtsforelle gebraten werden sollen. Ich schlucke und füge mich in die Situation, schließlich bin ich ein Willing Worker und habe das vertraglich per Mausklick im Internet unterzeichnet. Auf dem Heimweg laufen zwei dreijährige Weihnachtsmänner in voller Montur an den Händen von Erziehungsberechtigten an uns vorbei. Die schwarzen Weihnachtsmanngürtel sind viel zu lang und auf den kleinen Rücken zu einer japanischen Kimonoschleife gebunden. An Baustellen blinken rote Lichterketten, aber das ist hier nicht nur zur Weihnachtszeit so. Japaner schmücken ihre Baustellen eben ganzjährig gerne. Zurück im finnischen Blockhaus steht jetzt eine Plastiktanne mit wirrem Baumschmuck im Wohnzimmer: Snoopy mit roter Mütze, von Kindern angemalte Holzsterne, goldene Plastikkugeln, rote Plastikschleifen, eine 30 Zentimeter Goldschrift „Merry Christmas“ aus Hartplastik und aus Deutschland importierte Christbaumkerzen aus Öko-Bienenwachs zieren die Plastiktanne. So stehe ich Heiligabend und Heiligtag in der Küche, nehme Fische aus, röste Mandeln, brate in drei Pfannen gleichzeitig unbekannte Fische, stopfe Mandeln und Rosinen in übergroße Äpfel und koche deutsche Vanillesauce, ebenfalls importiert. Zwischendurch gibt es eine hektische Bescherung: einen deutschen Herrnhuter-Stern für die Japaner, japanische Essstäbchen für die Deutschen. Ganz klassisch. Die Bienenwachskerzen am Plastikbaum werden kurz angezündet, aber von den Kindern viel zu gern ausgepustet. Die Zeit zwischen Anzünden der Kerzen und einem Kinderatem, der sie auspustet, reicht gerade einmal für wenige „Ahs“ und „Ohs“. Doch die Japaner sind begeistert von echten Kerzen am Baum. Die typische andächtige Weihnachtsstimmung, in der die Familie Heiligabend den Baum mit Stolz betrachtet, bevor sich alles auf die Geschenke stürzt, kommt jedoch nicht auf. Wahrscheinlich muss einem diese Andacht von den Windeln an beigebracht werden. Zum Abschluss gibt es eine japanische aufgehäufte Sahne-Erdbeer-Torte und deutsches Bier vom japanischen Braumeister Kirin.

Die Finger schmerzen vom vielen Abwasch und Geschnippel. Irgendwann schmerzen sie nicht mehr- einen Dank an das deutsche Reinheitsgebot der Bierbrauerei und einen an japanische Supermärkte, dass ihr Sortiment das goldene Gebräu umfasst.

Vor dem Ofen auf dem braunen Plüschteppich schlafe ich ein, betrunken.

I wwoofed myself to death…

(Text und Bilder von Carina Pesch)