Einmal Zivilisation und zurück

Zivilisation – das ist doch dieses Ding, das man nie versteht. Also verlassen wir sie für eine Weile. Hinter einer Holzhütte entschlüpfen wir ihr, schlendern zunächst durch den dazu gehörigen Garten, Hunde bellen, Hühner gackern und winden uns einen schmalen Trampelpfad den Berg hinab. Dann gibt es nur noch Grün, rutschigen Boden und uns: ein junger Guide und zwei Weißnasen.

Im Tal angekommen, versperrt ein Fluss den Weg. Vom ganzen Regen der letzten Tage ist er angeschwollen. Unser Guide ist entsetzt; so voll hat er den Fluss scheinbar noch nie gesehen. Wir überqueren ihn trotzdem. Bis zur Hüfte im sprudelnden Wasser waten wir durch den Fluss. Ich stolper über einen Fels und wieder einmal sieht mein Knie danach aus wie eines dieser Erdbeermarmeladenplätzchen aus einer billigen Keksmischung. Das ist jetzt das dritte mal während dieser Reise: erst hat eine Welle mein Knie über Korallenüberbleibsel am Strand gezerrt, dann bin ich mit einem Moped gestürzt und jetzt versteckt sich dieser Fels im Wasser. Und es ist immer das rechte Knie.

Die Flussüberquerung

So wie es immer die Schuhe sind. Ich verliere immer Schuhe auf Reisen. Aber dieses mal habe ich mir ernsthaft vorgenommen, von dieser Sitte Abstand zu nehmen. Das ist mir auch gelungen. Ich habe meine Schuhe nicht verloren. Dieses mal hat jemand anderes meine Schuhe für mich verloren. Als wir uns aus dem reißenden Wasser ziehen, müssen wir feststellen, dass am Rucksack unseres Guides noch zwei Schuhe baumeln – zwei linke Schuhe. Ein schwarzer Gummihalbschuh von ihm und eine linke Sandale von mir. Den Rest hat das Wasser geklaut. Also wandern wir los, nun alle drei barfuß. Denn Niklas mag seine Schuhe nicht und zwei linke Füße zum Wandern sind zu riskant.

Ein Tunnel aus Stein, vom Wasser rund geschliffen, mit kleinen Becken und Buchten drin, mit einem Blätterdach von oben und weißen Engelstrompeten führt uns tiefer in den Dschungel. Das Wasser plätschert seicht. Die Sonne dringt kaum durch das dichte Grün hindurch. Wir klettern, schlängeln und winden uns. Blutegel schlagen Purzelbäume auf dem Trampelpfad, eine steinige Ebene mit Wasseradern tut sich auf und im nächsten Moment stürzt der Wald wie Mikadostäbchen über uns zusammen. Bambusstämme. Dann wieder dichter Wald. Irgendwann blicken wir auf Reisfelder. Zwei Männer pflügen mit Wasserbüffeln, eine Frau setzt junge Reispflanzen aus, steht gebückt im Reisfeld, bewegt sich langsam, hantierend vorwärts.

Ein junges Reisfeld

Reis: Bei der Aussaat

Reis: Beim Trocknen

Kakaobohnen liegen auf dem Weg zum Trocknen

Wir passieren kleine Dörfer: Hütten, Häuser, Kaffepflanzen. Der Kakao trägt seine gelb-roten Früchte und die Zimtbäume erkennt man an ihren roten Blättern. Kardamom, Kakao, Zimtrinde und Reis liegen auf Tüchern auf den Straßen zum trocknen. Ein handgroßer Hundertfüßler kriecht den Weg entlang. Wir machen einen großen Bogen um ihn, denn er ist giftig, und jagen lieber den faustgroßen Schmetterlingen nach. Schulkinder spielen auf ihrem Heimweg im Fluss. Die Mädchen tragen weiße Schleier zu ihrer Schuluniform, die Jungen schwarze Kappen. Immer wieder stehen Wasserbüffel herum, grasen und gucken treudoof durch die Gegend. Dazu leuchten die Reisfelder in allen erdenklichen Grüntönen und goldgelb, wenn er reif ist.

Schulmädchen am Wasserlauf

Der Himmel färbt sich in dunkles Anthrazit, lässt die Sonne aber in einzelnen Strahlen durch die Wolken scheinen und die gelb-gold-grüne Berglandschaft feierlich erstrahlen. Auf der Bergspitze erhaschen wir einen diesigen Abendblick auf den Maninjau See, durch eine Senke zwischen zwei Bergen kann man hinter dem See das Meer erahnen. Die Sonne senkt sich. Mitten im Dschungel, am Hang gelegen, kehren wir ein in Anas Homestay. Ein paar offene Hütten, aus ausgeblichenen Holzlatten zusammen gezimmert, schmiegen sich an den Berg und bieten einen wunderschönen Ausblick auf den See. Die Sonne geht unter, dicke Wolken drücken von oben herab, Himmel und See färben sich golden.

Am nächsten Morgen: Das gleiche Spiel zum Sonnenaufgang, nur in matteren, gedämpfteren Farben und mit mehr blau. Für dieses Spektakel müssen wir noch nicht einmal aufstehen. Oben in unserer Hütte liegend können wir alles sehen, stehen dann aber doch auf, um zu duschen.

In der Dusche erwarten uns Ameisen. Aber keine gewöhnlichen Ameisen. Diese Exemplare halten eine schwarze Messe ab oder feiern eine Orgie. Sechs Ameisen stehen im Kreis um eine in der Mitte. Sie streicheln sich mit den Fühlern und den Vorderbeinen. Jeder jeden. Die Ameisen im äußeren Kreis krümmen ihren Hinterleib durch alle Beinchen hindurch nach vorne in die Mitte des Kreises. Sie sind dabei krumm wie Bananen und sehen gequält aus. Sie pressen eine Flüssigkeit aus ihrem Hinterleib und schmieren sie an die Ameise in der Mitte. Das durchsichtige Sekret wird mit Fühlern und Vorderbeinen am ganzen Körper einmassiert. Einige weitere Ameisen scheinen nicht so richtig dazu zu gehören. Sie irren verwirrt durch die Gegend, versuchen den Weg in den Kreis zu finden, hauen aber jedes mal wieder ab, wenn sie gerade drin sind. Wenn diese merkwürdige Zeremonie das Liebesspiel der Ameisen ist, dann möchte ich nicht wissen, wie merkwürdig den Ameisen unser Liebesspiel vorkommen muss.

Nach dieser Entdeckung machen wir uns auf ins Tal, zum See. Nebel liegt auf der Wasseroberfläche, die Fischer in ihren Kanus sind Schattenrisse am Horizont. Schwarzer Körper, Dreieckshut auf dem Kopf, langes, schmales Boot und ein schwarzes Ruder, das bei jedem Atemzug gemächlich in das bläulich schimmernde Wasser eingetaucht wird. Dazu das raschelnde Geräusch von Wasserschnecken, die aus dem Kiesgrund gesiebt werden. Frauen und Männer stehen in langer, nasser Kleidung bis zum Kopf im Wasser, sieben Wasserschnecken und ziehen Fischernetze durch das Wasser. Am Strand spielen kleine Jungen Fußball. Sie sind kleiner als zehn, haben dieses Alter aber schon erreicht. Zeit für sie erwachsen zu werden: Ich gucke ihrem Spiel zu, sie legen sich ins Zeug wie Profis und wollen hinterher Geld. Schließlich müssen sie sich und ihre Familie langsam selber durchfüttern. Alles hat seinen Preis.

Auch die Rückfahrt in die Zivilisation hat ihren Preis. Damit meine ich nicht die läppischen 50 Cent Fahrtkosten. Aber der Weg zurück hat angeblich 44 Kurven – ich möchte behaupten, es sind mehr – und das bei einer Steigung, die einen beim zu Fuß Gehen in die Horizontale fallen lässt. Niklas kann die Umstülpung seines Magens gerade noch verhindern. Und mir tut nach vier Stunden Fahrt die rechte Hand weh, denn ich habe ihm vier Stunden lang den Nacken massiert.

Zurück in Bukittinggi nehmen wir für den restlichen Weg vom Busbahnhof zum Hotel einen Minibus. Ein verdächtiges Geräusch und ein Absacken des Wagens verraten uns, dass unser Gefährt soeben einen Platten erlitt. Aber das interessiert keinen, kein einziges Augenzucken weit und breit. Der kleine Bus fährt ungestört weiter, jetzt halt auf der Felge. Drei Reifen tun es ja auch.

Wichtig hingegen ist die Autowäsche. Auch unser dreibeiniger Minibus glänzt. Egal wie fertig ein Fahrzeug in Indonesien ist, es ist immer blitzeblank poliert. Mindestens einmal pro Woche wird jedes indonesische Moped liebevoll auf der Straße geputzt. Seife einmassierende und abspülende Männer gehören genauso ins Straßenbild wie die schreienden Muezzins ins Klangbild dieses Landes.

Das ist es, was es bedeutet, zurück in der Zivilisation zu sein: lauter Dinge, die man einfach nicht versteht. Wieso sind die Fahrzeuge sauber aber kaputt? Wieso braucht man zehn Männer und zwei Stunden um ein Rad zu wechseln? Wieso hält der Bus ständig an den unsinnigsten Orten, ohne dass irgendetwas passieren würde, das Sinn macht?

Der Bus fährt dann erst stundenlang durch ein verwinkeltes Straßenlabyrinth, hält in irgendeiner Ecke, der Fahrer steigt aus. Gut, denkt man sich, denn der Fahrer wankt eh bedenklich beim Aussteigen. Er läuft ein mal um den Bus herum, zeigt einer Horde hockender Männer die weißen Passagiere, ein anderer besteigt den Fahrersitz, steckt sich eine Zigarette an, weißer Qualm mit Nelkengeruch steigt aus seinen Lungen auf, er tut als würde er eine Rally fahren, steigt ebenfalls wieder aus, geht ein mal um den Bus herum, holt seinen etwa vier Monate alten Sohn, zeigt dem Kind die Weißen, das Kind soll „Hello Mister“ sagen, tut es aber nicht, es kann ja auch noch gar nicht sprechen. Dann steigt ein Dritter auf den Fahrersitz, der Motor läuft die ganze Zeit, er steckt sich eine Zigarette an, weißer Qualm mit Nelkengeruch steigt aus seinen Lungen auf, auch er steigt aus, läuft ein mal um den Bus herum, aber besteigt erneut den Fahrerthron. Endlich: Er beendet die Reise nach Jerusalem um den Bus herum, setzt den Wagen zurück und fährt los.

Das ist Zivilisation: Die Frage – Wieso denn bloß?

(Text und Bilder von Carina Pesch)